von einer phlegmatischen Gemütlichkeit beherrscht, die es unmöglich macht, in das System zurückzukehren oder das Leben in die Hand zu nehmen. Ich wünsche ihnen Glück, aber die anderen hier sind lustiger. Die, die irgendwas machen. Noch suchen, sich schütteln oder mit den Armen rudern.
»Sieh nur!«
Ole zieht an meiner Schulter. Der Strand bebt. Bekloppte Menschen, alle fliegen übers Kuckucksnest. Wie viel Leben, wie viel Kraft, wie viele Verrückte. Alle sind voll da! Wir mitten drin, Köln Lichtjahre entfernt. Eine Gruppe praktiziert heftige Hüftstöße. Immerhin haben sie Klamotten an. Die vier Herren und drei Damen hingegen, die im Kreis stehen, sich an den Händen halten und abwechselnd in die Runde kreischen, sind nackt. Labbrige Pobacken, Hausfrauenhaarschnitte und ellenlange Intimbehaarung. Will man nicht sehen, man kann aber auch nicht nicht hingucken.
Ein Mann mit Turban und langem grauem Bart – so einen müsste man hier haben – trägt ein unbeflecktes weißes Gewand. Er sitzt im Sand. Wie eine Säule. Natürlich Lotussitz. In Stille, umgeben von Kraft, von Aura, von tiefer Ruhe und Verbundenheit. Da würde jeder American-Football-Spieler beim Tackle-Versuch einfach abprallen oder zu Staub zerfallen.
Der kleine Kreis, der sich zum Acro-Yoga getroffen hat, zeigt wunderschöne Hebefiguren. Menschen schweben in vollkommener Körperspannung auf den zum Himmel gestreckten Füßen ihrer am Boden liegenden Partner. Da würde ich gerne mitmachen. Und sonst? Ein spontanes Didgeridoo-Konzert, Ölmassagen, die im Sand zu ungewolltem Peeling werden, Lachyoga. Ein selbsternannter Guru erklärt die Welt für eine Energiespende.
Es wird sich ausgetobt und ausprobiert. Alles ist erlaubt, Menschen, die sich fremdschämen, fallen auf der Stelle tot um.
Zwischen all diesen Gestalten und Ereignissen laufen ein paar Inder in Sandalen, mit langen Stoffhosen und schickem Hemd hin und her, um das Spektakel der Menschen, die aus fernen Ländern in ihre Heimat gereist sind, zu betrachten. Was die wohl denken? Also, was die wohl denken, was im Westen so getrieben wird, an einem Dienstagabend?
Hinter uns in der Ferne schallen dumpfe Trommelschläge.
»Endlich«, sagt Ole.
Es heißt, Tanzen und Umarmungen seien die wirksamsten Werkzeuge, um das Herz zu öffnen. Begegnung mit einem Menschen und Begegnung mit sich selbst. Und natürlich kenne ich die Sprüche: »Tanze, als würde dir niemand zusehen!« Aber das ist Theorie. Ich fürchte, dass meine Bewegungen nicht so geschmeidig und ästhetisch sind wie die der anderen. Dass ich blöd aussehe. Das erzeugt Schamgefühl, dagegen hilft Rum-Cola.
Aber mit den Jahren wage ich mich heran. Ich habe an meiner Unsicherheit gearbeitet, in Seminaren einen sicheren Raum gefunden, sodass ich meist mit geschlossenen Augen tanzen kann. Auch ohne zwei Promille. Trotzdem bleibt es eine Überwindung.
Thomas, ein Zimmernachbar auf einem Wochenendseminar, sagte mal zu mir und meiner Scheu:
»Angsthasen sind voll mit Liebe. Die Drübersteher und Belächler sind es, die Hilfe brauchen. Sie sind von Furcht zerfressen.«
Als die Sonne im Meer verschwunden ist, breitet sich eine geheimnisvolle Dämmerung über Arambol aus. Wir stapfen voran, den dumpfen Geräuschen entgegen. In der beginnenden Dunkelheit hat sich eine Menschenmenge gefunden, plötzlich stehen wir davor.
Es sind sieben. Sie sitzen auf Hockern und auf Kisten. Muskulöse und drahtige Männer mit Rastalocken und schwarzem Haar. Vor ihnen im Sand die Bongos, die heiligen Werkzeuge. Mächtige Instrumente, groß wie Kübel, aus afrikanischem Holz und filigrane Klanggefäße mit straff gespannter heller Ochsenhaut, eingeklemmt zwischen den Oberschenkeln der Spieler, deren Hände darauf klopfen. Sie sind der Motor der Leidenschaft. Sie wecken den Rhythmus, befeuern die Energie, kraftvoll, unaufhaltsam. Der legendäre Drum-Zirkel von Arambol ist bereit abzuheben.
In der Mitte ein Hüne mit wildem Bart, der mit den Handballen einen klaren Basisbeat in die Nacht schmettert. Der Typ daneben balanciert einen Joint zwischen den Lippen, schwarze Locken fallen in sein Gesicht. Er steuert mit den Fingerspitzen Finesse bei. Seine Kreativität verschmilzt mit der stramm nach vorne marschierenden Führung. Sein Nachbar steigt ein, seine Beine wippen, er forciert Geschwindigkeit, streut Zwischenschläge ein, entfesselt neues Feuer. Das Zusammenspiel spontan, hitzig, aufbrausend. Und frei.
Mein Kopf will sich bewegen. Links und rechts von mir stehen Menschen, die auf die Performance starren, wippen, federn, schwingen. Die Luft pulsiert, Leidenschaft erwacht, Kraft schwärmt durch unsere Adern.
Mehr Leute drängeln sich heran, unbewegte Körperteile werden aufgeladen, wollen fliegen, toben, tanzen. Die Beats immer heißer, wilder, die Umstehenden stapfen mit den Füßen, der Raum vor den Meistern an den Trommeln ist leer. Noch. Ein Vakuum, umringt von zuckenden Gestalten, der Damm ist kurz davor, zu brechen. Dann springt einer nach vorne in den Kreis. Nichts kann ihn jetzt noch halten. Ein Zweiter steigt mit kraftvollen Schritten ein, vor und zurück, stolziert durch den Sand, der unter seinen Füßen durch die Gegend fliegt. Eine Frau lässt ihre Arme tanzen, Ole den Oberkörper kreisen, er taucht ab und wieder auf, lässt sich hineinziehen, erfassen, davontragen. Ich will auch, aber kann nicht. Unsichtbare Fesseln halten mich zurück. Ein Bärtiger springt vor, sinkt auf die Knie, reißt die Hände in die Luft. Ein Urschrei entfährt seiner Kehle. Weitere stoßen hinzu. Die Kraft der Tanzenden, das Fieber dieser Nacht, elektrisiert die Häuptlinge an den Bongos. Eine neue Welle schießt durch ihre trommelnden Leiber, heizt sie an, immer schneller, immer weiter, immer schneller. Plötzlich sind alle in Bewegung. Die Körper schwitzen, ihre Schatten wild wie Tiere, die Bewegungen hemmungslos und wunderschön.
Dann ist es da, in mir, ein Vulkan, er bricht los, zügellos, roh, euphorisch. Meine Augen sind geschlossen, ich springe, springe, springe, mein Kopf zuckt ruckartig durch die Gegend. Erlösung strömt durch meinen Körper, peitscht ihn an, immer mehr, immer weiter, immer höher …
Schweißtropfen fliegen durch die Luft. Die glorreichen Sieben sind in Rage, wir sind ihre Energie, ihr Motor, ihre Raketenturbine. Wieder stürzt sich einer der Trommler auf den Beat, spielt mit, um plötzlich alles an sich zu reißen. Es geht hinauf, in die Höhe, eskaliert, immer weiter, weiter, weiter. Durch die Eingeweide, in die Schenkel, in die Arme. Das Blut in Wallung, die Freude grenzenlos. Jemand kreischt, ein Mann boxt durch die Luft, ein Junge taumelt, bebt, zersprengt die Ketten. Alles tobt, zuckt, springt, fetzt durch den Sand und wieder zurück. Eine Bauchtänzerin, die Füße fest im Boden, schüttelt ekstatisch ihre Hüfte, ein Mädchen mit Jeans und T-Shirt dreht sich, vibriert, leuchtet. Immer mehr Menschen stürmen nach vorne, die Meister an den Trommeln sind triefend nass, die Energie wächst und wächst und wächst. Sie glüht. Die Nacht ist schwarz; nur von den Handys der glotzenden Inder fällt das Licht wie ein Scheinwerfer auf die Verrückten, die sie filmen. Egal, die Ekstase ist lange schon nicht mehr aufzuhalten.
Pitschnass betreten wir ein Restaurant. Das Gute an einem Strand voller Verrückter: Man fällt nicht auf. Hinter uns liegt eine Stunde Superwahnsinn. Tanzen ohne Mut antrinken, meine Scheu wie weggeblasen, und dafür danke ich jetzt den Verrückten.
Ole bestellt im Vorbeigehen zwei Bier und guckt verdutzt, als ich mich für einen Liter Wasser entscheide. Wir setzen uns an einen Tisch unter tausend Sterne. Ein paar Tische sind besetzt, sanfte elektronische Musik begleitet die Gäste in die Nacht.
»Das Leben ist so schön!«, singt Ole.
»Das hat Megaspaß gemacht.« Es tut so gut, mal aus sich rauszugehen.
Wir ziehen die durchgeschwitzten T-Shirts aus, Schweißperlen glitzern auf der Haut.
Ole ist ein großer Tänzer. »Ich liebe es, wenn der Körper von allein macht. Wenn da keine Idee mehr ist, der Rhythmus das Steuer übernimmt, und die Jungs waren obergeil.«
»Unglaublich, wozu der Körper fähig ist. Ich bin gespannt, was meine Beine morgen zum Dauerspringen im weichen Sand sagen.«
»Ich könnte ein frisches T-Shirt brauchen.«
Als die Biere (beide für Ole) und das Wasser (für mich) geliefert werden, geben wir unsere Essensbestellung auf. Wir lehnen uns zurück und schauen uns an. Das Leben ist schön.
Es folgen die Instruktionen