Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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Augen, die in ferne Sphären blickten, mit Mandalas bemalte Haut, schwebende Hände mit grünen, roten, blauen, gelben Fingernägeln, nackte Füße auf gesundem Waldboden. Der Rhythmus rauschte wie unsichtbare Energie in unsere Körper. Pochen, hüpfen, springen, springen, springen. Um uns zuckten Gestalten in ewiger Ekstase, alle in Trance, der Tanz frei und losgelöst. Meine ersten Stunden im gelobten Land.

      Wie gut die Menschen waren. Das Zusammensein, die Lebendigkeit, die Musik, die Lichtblitze, die Fackeln und die Feuerstellen. Alkohol, Frieden, Joints, die ganze Suppe aus euphorischen Empfindungen und glücklichen Individuen, die sich an der richtigen Stelle versammelt haben, um gemeinsam zu diesem hemmungslosen Ereignis zu werden. Um das neue Jahr zu feiern. Und die Existenz.

      »Ein schönes Fest.«

      »Ja, so schön, so besonders. Bis um drei Uhr …«

      »Ich habe noch nach dir geschaut.«

      »Als hätte mir jemand den Stecker gezogen.«

      »Als du dich auf den Boden gelegt hast, sahst du noch passabel aus. Ich dachte: Jetlag, das wird gleich wieder.«

      Tee und Kaffee werden auf einem silbernen Tablett serviert. Riski ist total konzentriert, quasi ›Zen und die Kunst des Tee-Servierens‹, und guckt dabei so süß.

      »Ja, fast.« Ich trinke einen Schluck Tee.

      »Als ich heute Morgen den Blutfleck in der Toilette entdeckt habe, kamen Fragen auf.«

      Ole schmunzelt, hält inne, schaut mich an und ist begeistert:

      »Alter, noch keine zwei Tage in Indien, und schon das dritte Auge geöffnet.« Er gießt sich einen Schluck Milch aus dem silbernen Kännchen in den Kaffee.

      Das dritte Auge ist das Tor zur Weisheit. Die Blutkruste auf meiner Stirn sitzt haargenau dort, wo der gemeine Inder seinen roten Farbklecks platziert, das Bindi. Damit wird dem Universum Hingabe signalisiert: bereit für die Erleuchtung. Rote Farbe? Lächerlich! Es muss Blut sein. Mindestens.

       »Lasd night gud ixstatik party?«

      Der Rest der Bestellung wird von Shorti geliefert. Er trägt wie Riski ein rotes Hemd und lange Stoffhosen. Sein Oberlippenbart ist stolz, der glänzende Scheitel auf seinem Haupt versprüht ordentliche Gelassenheit. Das Beste an ihm ist dieser nach innen gerichtete Blick. Jedes Mal huscht, eine Sekunde bevor er etwas sagt, ein Schmunzeln über sein Gesicht. Eine freudige Erwartung dessen, was als nächstes geschieht, welche Wirkung seine Worte haben, welche Wendung sich das Leben ausdenkt. Jetzt gerade ist es die Neugierde auf die Ereignisse der letzten Nacht.

      »Ooohh.« Seine großen Kulleraugen blicken auf mein drittes Auge.

      Ole lacht und nickt mit vollem Mund.

      Ich winke ab: »I got sick.«

      Shorti versteht.

      Wir fühlen uns gut aufgehoben bei diesen beiden jungen Indern. Shorti und Riski haben ihre Bestimmung gefunden. Es ist mehr, als hungrige Mäuler zu stopfen und den Lebensunterhalt zu erwirtschaften. In ihrem Schuppen treffen sie die Menschen aus der Welt. Sie hören Geschichten, begleiten den Besuch in ihrem Land, schließen Freundschaften. Sie wissen, wie sehr wir sie vergöttern, auch wenn sie nicht verstehen, weshalb, und wir das nicht erklären können. Ist aber auch nicht nötig. Es ist, wie sie ihren Laden schmeißen, und das Vergnügen in den freundlichen Gesichtern, diese Zufriedenheit. Es ist das Einverstandensein mit dem, was ist. Vielleicht sind die beiden Heilige. Oder wir sind endlich offen, sind so neugierig, wie man meistens nur auf Reisen ist, dass wir das Besondere erkennen und das Gute sehen – egal mit welchem Auge.

      Ole erzählt von der Party im Wald, Shorti freut sich, weil sein Land die Menschen begeistert. Dann schlendert er wieder in die Küche. Mein Schädel brummt, der Magen rumort.

      »Das wird ein g.u.t.e.s Jahr!«

      Ole ist so was von in seiner Mitte, stopft Ei und Schinken in seinen Rachen.

      »Es kann nur besser werden.« Für mehr Optimismus fehlt mir die Kraft.

      »Es passiert immer so viel. Und das geht jetzt alles erst richtig los. Alter, wir sind in Indien!«

      »Stimmt, vorgestern bin ich noch durch den Schnee in Köln gestapft, gestern Wahnsinnsparty, Spirit total, um im Gegenzug dann Shiva kennenzulernen.«

      »Der Gott der Zerstörung, der Bereiter eines jeden Neuanfangs.« Oles Freude über meinen Zusammenbruch tanzt in jeder Zelle.

      »Den Jahreswechsel hätte ich auch ohne Magen-Darm-Erlösung hingekriegt.«

      »Vielleicht ist so eine Darmreinigung ja gesund.« Ole grinst. »Da brauchst du keinen Einlauf mehr.«

      Stimmt, aber noch bin ich nicht überzeugt von meinem Riesenglück.

      »Die ganzen Gifte und der alte Dreck sind raus, der abgelagerte Morast ist entfernt, das System bereit für neue Taten.«

      Gesundheitsfördernde Maßnahmen fühlen sich normalerweise anders an. Und: Man wird gefragt. Eine kleine Gemeinheit in meinem Hirn erinnert mich daran, Ole an seine Weisheiten zu erinnern, sollte es ihn erwischen.

      »Und vergiss nicht deine magische Trance in der ewigen Dunkelheit.« Ole ist entzückt, der Kreislaufkollaps ein wichtiger Schritt hin zur Erleuchtung.

      »Du meinst die Ohnmacht? Das war toll, nach offiziellen Schätzungen aber nur zwei oder drei Sekunden lang. Quasi im Sturzflug.«

      »Zeit spielt keine Rolle. Die Intensität der Erfahrung ist das, was zählt.«

      Genug davon, wir ordern die Rechnung, weil wir um den Hügel herum zum Strand wollen, um das neue Jahr mit einem Sonnenbad zu beginnen. Ich korrigiere, denn wir waren uns einig: um das neue Jahr mit einer Sonnenmeditation zu beginnen. Vermutlich gibt es keinen Unterschied, aber wir sind Spielkinder am Neujahrstag, und das ist schließlich Indien hier.

      Während wir auf die Rechnung warten, zückt Ole sein Handy und versinkt darin. »Unfassbar …«

      »Was?«

      »… mit der Stirn, einem sechs Millimeter dünnen Knochen, im freien Fall aus 1,70 Metern Höhe auf den Fliesen eingeschlagen – und nicht tot.«

      »Gut gemacht, ne?«

      »Ich hab’s immer gesagt, wusste aber nicht, dass dir das mal das Leben rettet: Du bist ein Dickkopf.«

      Ich lege mich noch mal hin. Eine Stunde später wandern wir den kleinen Pfad um die Klippe herum, schlängeln uns an den Shops und Verkaufsständen vorbei, die luftige, lange Stoffhosen, CDs, Tücher, Holzschnitzereien und alle möglichen Souvenirs anbieten. Räucherstäbchen verströmen ihren Duft, sanfte Sitar-Klänge schwirren aus kleinen Lautsprechern.

      »Today, I am the manager«, sagt ein zehnjähriger Junge zu mir. Seine dunklen Augen leuchten. Er übernimmt heute die Schicht, weil seine Eltern zu einer kranken Tante fahren mussten.

      Er hockt auf einen Schemel, springt auf, verschiebt einen Stapel T-Shirts, flitzt zurück. Er strahlt. Ich kaufe einen Sarong für drei Euro. Wir verabschieden uns mit »Namaste«. Gerne würde ich ihn drücken, aber kleine Manager drückt man nicht.

      Die Großen in der Heimat leider auch nicht, aber das ist eine andere Geschichte. Gutes Gefühl, so weit davon entfernt zu sein. Vom Trott.

      Eine Verkäuferin mit nur zwei Zähnen lächelt, ihre Bewegungen sind bedacht, Zufriedenheit umgibt ihr Wesen. Indien. Das Haar ist schwarz, die Menschen tragen Gewänder in allen Farben und einen roten Punkt auf der Stirn. Sie sind irgendwie wie Kinder. Aber auch wie stille Weise. Und hier an dieser Klippe gibt es weniger Verkaufsdrang, so ist Augenkontakt möglich, sogar ein unverbindlicher Blick auf die Waren, und immer wieder wünschen wir ein frohes neues Jahr und erhalten selige Glückwünsche.

      Nach zehn Minuten endet der kleine Weg um die Klippe herum, und wir hüpfen in den Sand. Er ist fest, ein guter Untergrund, man sinkt kaum ein. Zu unserer Rechten das Meer. Vor uns liegt ein gigantischer, fast hundert Meter breiter Strand, der immer weiterläuft,