sich hier in Arambol im leichten Gewand. Ich gehe weiter, blicke in die Shops, laufe an Männern mit hüftlangen Rastalocken vorbei, Pärchen mit Yogamatten unterm Arm und jungen, lauten, testosterongeschwängerten Israelis, denen ich auf der ganzen Welt begegne. Sie wollen nach dem Militärdienst die Welt entdecken und wieder leben. Und sich die Hörner abstoßen.
An einer gigantischen Laterne bleibe ich stehen. Mein Blick folgt ein paar schwarzen Kabeln in die Höhe und trifft auf einen gordischen Knoten von epischem Ausmaß. Das schwarze Knäuel, das sich dort über die Jahrzehnte entwickelt hat, müsste eigentlich auf der Stelle zu Boden krachen und die halbe Häuserwand mitreißen. Alles ist Hunderte Male über- und unter- und umeinander gewickelt. Dutzende Leitungen fliegen in alle Himmelsrichtungen, gehen auf die andere Straßenseite, andere kommen von dort, verschwinden in dem riesigen Wirrwarr, hängen an einem rostigen Nagel oder bieten weiterem Kabelsalat eine Tasse Tee und die Chance, mit dabei zu sein. Ein Unterhemd hat sich darin verfangen, baumelt vor sich hin, und ein Turnschuh hängt an einem Schnürsenkel, vermutlich um den Flugverkehr umzulenken. Das sieht so übertrieben und gleichzeitig nach unendlicher Freiheit aus. Ein Bild für das Bauordnungsamt, weil es vollkommen unmöglich ist, herauszufinden, wer hier wem den Strom klaut, welches Kabel welchen Ursprung hat oder wohin die ganze Sache führt. Wie das Leben.
»Ist das ein Fluxkompensator?«, fragt Ole.
»Möglich. Oder die CIA, denn hier laufen alle Strippen der Welt zusammen.«
Ole schießt ein Foto. Ich bin begeistert, denke wieder, wie wenig es manchmal braucht, während mein Blick die Laterne herabwandert und auf eine dort angeklebte, ähnliche konfuse Zettelwirtschaft trifft. Papierfetzen mit krakeligen Telefonnummern oder verblichene, laminierte Karten, die Angebote anpreisen: Massage, Ayurveda, Tantric Infusion, Geistheilung, Free to Die, Path of Love und immer wieder Yoga. Hatha, Yin, Vinyasa, Jivamukti, Kundalini, Ashtanga.
SUP-Yoga ist nicht dabei. Vielleicht ja eine Marktlücke.
»Das werden wir alles ausprobieren.«
»Singing Bowl Wisdom?« Klangschalen, die uns Weisheit in die Ohren flüstern?
»Ja. Und warte, es kommt noch mehr.«
›Es kommt noch mehr.‹ New Age und Esoterik. Welt der Wunder, Wahnsinn, Religionen. Yoga hat die Massen erobert. Hausfrauen, Manager, Jung und Alt stehen auf einem Bein, auf dem Kopf oder zerren an der verspannten Muskulatur. Was ist Yoga? Ursprünglich war Yoga ein Weg zur Erleuchtung durch innere Einkehr, und die Asanas, die Übungen, kamen erst später hinzu, um die intensiven Meditationen körperlich zu verkraften. Und heute? Entspannungsturnen oder eine hochspirituelle Angelegenheit. »Up to you, my friend«, sagte ein weiser Indonesier einmal zu mir. Die Yogakurse in den Städten könnten unterschiedlicher nicht sein. In manchen wird meditiert, das heilige Om gesungen, in anderen Sport getrieben. Ole war eine Weile bei einem Yogalehrer in Köln, der längere philosophische Exkurse hielt und immer neue Ideen mitbrachte. Irgendwann war es eine Magenreinigung, für die man eine Mullbinde Stück für Stück runterschlucken sollte, bis nur noch ein Zipfel aus dem Mund baumelte. Dann die ganze Sauerei wieder rausziehen. Ole hat es probiert …
Die extremen Yogis schneiden sich das Zungenbändchen durch, um mit der Zunge von innen die Nase zu penetrieren, und in den alten Schriften finden sich Abschnitte, die, um die Endlichkeit des Körpers zu begreifen, den Verzehr von Leichenteilen empfehlen. Ich bleib dann mal beim Sonnengruß.
Und sonst: malen nach Zahlen, hyperventilieren, tanzen. Singen heißt jetzt Chanten. Fasten, schlafen auf dem Nagelbrett, ausflippen, einen Baum umarmen oder in Gebeten die Götter um ihre Gunst bemühen. Die ganze Welt ist unterwegs. Auf der Suche nach dem Glück. Mehr ist es ja nicht. Das verbindet uns, und es ist schön, dass die Wege so verschieden sind. Was heilig ist und was totaler Quatsch, ist eine persönliche Angelegenheit, denn eine Wahrheit gibt es nicht. Natürlich außer meiner, denn naturgegeben halte ich meine Perspektive häufig für die richtige. Dümmer kann ich gar nicht sein, aber es ist schwer, sich das abzugewöhnen. Mystik hilft mir dabei. Etwas, das sich nicht erklären lässt, kann eine schöne Demut schaffen, weil ich eigentlich gar nichts weiß. Nicht eigentlich. Deshalb soll Indien mich verzaubern. Mir Eindrücke verschaffen und Weltbilder zeigen, bis mir nichts mehr bleibt, als über mich zu lachen.
Wir ziehen weiter, Ole zeigt mir, wo es leckeres Curry gibt und wo den besten Obstsalat. Ich beäuge die Etablissements heute kritisch. Natürlich will ich nicht die halbe Welt verteufeln, wegen einer schlechten Erfahrung alles grau sehen und die Krankheitserreger in jeder Ecke – aber ich kann nicht anders.
Das Hirn warnt zu viel.
Vermutlich waren es die Eiswürfel in den Drinks am Strand. Wir hofften, dass der Alkohol die Mikroben zerstört, oder befanden uns in einer überheblichen Phase der Unverwundbarkeit, aber Vorsicht ist die Mutter von solidem Stuhlgang. Besonders in Indien. Der ungeübte westliche Körper steht den Monstern in den ersten Tagen mit weißer Flagge und freundlichen Friedensangeboten gegenüber. Die Biester haben ihren Spaß. Das Immunsystem wird überrannt, das menschliche Mutterschiff hat nix zu lachen. Wieso dreht sich heute alles nur ums Kacken?
Am Ende der Hauptstraße führt eine geteerte Straße aus dem Ort heraus.
»Da lang geht es zu den Geldautomaten.«
Aufgrund der leichten Steigung nicke ich nur und bin für weiter geradeaus.
Es wird waldiger. Wir wandern durch ein kurzes Stück mit Palmen und Bäumen, die uns Schatten schenken.
Auch hier sind die Restaurants ausgestattet mit Sofas, Hängematten, Decks zum Yogamachen oder Barfußtanzen, für Meditation und was immer hier geschieht. Der Secret Garden, das Ecstatic Dance, The Old Tree, Yoga Delight, das Eden.
Dahinter wählt Ole den Weg zurück zum Strand, wo noch vereinzelt Bars und Restaurants zu finden sind. Das Highlight von Arambol steht bevor. Auf einer kleinen Anhebung im Sand thront ein großes Grundstück in der Mittagsglut. Drumherum ein hoher Zaun aus Bambus.
»Da sind wir.« Die Sonne blendet, aber Oles Augen leuchten heller.
»Das Love Center???«
»Love T-E-M-P-L-E!«, korrigiert Ole.
»Love Center ist lustiger. Eine Eso-Shopping-Mall und für jeden was dabei, in jedem siebten Ei.«
Ole verdreht die Augen: diese Respektlosigkeit. Dann grinst er. »Love Center klingt nach Puff.«
»Auch gut. Dürfen wir da jetzt einfach reingehen?«
»Natürlich.«
Ole schreitet voran. Ein paar Holzstufen im Sand führen zu einem überdachten Bereich mit sofaähnlichen Sitzgelegenheiten zum Chillen, mit Tischen und Stühlen und zwei großen Kreidetafeln. Darauf das Programm. Heute ging es um sechs Uhr morgens los mit der dynamischen Meditation. Am Strand.
Die Dynamische Meditation wurde vom indischen Mystiker Osho entwickelt, um im Organismus unterdrückte Gefühle und innere Anspannung zu lösen.
Erste Phase: Chaotische Atemstöße, so schnell, heftig und unregelmäßig wie möglich.
Zweite Phase: Katharsis. Ausleben der geweckten Gefühle durch Schreien, Kreischen, Heulen, Lachen, Schütteln, Toben.
Dritte Phase: Mit erhobenen Armen bis zur totalen Erschöpfung auf der Stelle springen und tief aus dem Bauch »Huh Huh Huh« rufen.
Vierte Phase: Stopp! Verharren in der Stellung, in der man sich befindet, und nicht mehr bewegen.
Fünfte Phase: Integration der Erfahrungen und Ausklang der Meditation.
Kurz gesagt: Ausflippen 3000. In einem schalldichten, abgedunkelten Raum mit geschlossenen Augen beim ersten Mal sicher eine Überwindung. Hier am Strand im Sonnenaufgang … oh Mann!
Es folgen bis in den frühen Abend jede Menge Kurse. Yoga, Om Chanting, holotropes Atmen, Rebirthing. Von manchem habe ich gehört, anderes sagt mir nichts, aber jeden Tag die freie Wahl und mit fünf Euro pro Kurseinheit supergünstig.
Ole