Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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auf das Gelände.

      Außen herum stehen kleine Hütten auf Stelzen im Sand. Die Wände sind aus Bambusmatten, die ein wenig Durchlüftung in der prallen Sonne bieten, aber nur bedingt Privatsphäre.

      Dafür ist man mittendrin im Hexenkessel. Im Zentrum des Geländes wurden zwei etwa 200 Quadratmeter große Hallen errichtet, mit Holzböden und ähnlich luftigen Wandkonstruktionen, damit die Hitze ertragbar ist. Wir laufen um die erste Halle herum, die leer zu sein scheint. In der zweiten hören wir Stöhnen, Seufzen, wilde Atemstöße. Dark Silence ist eine Massenorgie.

      »Haben die sich im Programm geirrt?«

      Wie auf Kommando wird drinnen alles still.

      »Hauptsache, es funktioniert«, flüstert Ole.

      Wir drehen um und gehen zum Eingang zurück, wo Leute stehen, die sich miteinander unterhalten und Tee trinken. Eine kleine Gruppe hält sich bei den Händen, alle lachen, schauen sich an, summen, bevor sie sich kitzeln und umarmen. Vor meinem geistigen Auge blitzt eine Gewaltfantasie auf. Ich sehe Köpfe, die zusammen klatschen, mehr Komödie als Splatter, aber dieses esoterische Theater kann einem auch auf die Eier gehen. Gut, dass hier keiner Gedanken lesen kann. Also hoffentlich.

      Ich werfe einen Blick auf die Tafeln mit den Gruppen und Übungen. Rechts davon hängt ein Flyer: Tantra-Festival. In zwei Tagen …

      Ich zucke zusammen, denn eine Sekten-Hand streichelt über meine Schulter.

       »It is going to be a-b-s-o-l-u-t-e-l-y amaaaaaaazing!!! Very deep! And life changing …«

      Eine Frau mit Blumen im Haar, riesigen Ohrringen, einer Unmenge Halsketten und großen Augen verfällt in eine theatralische Pose, nickt, dreht sich mit einer Pirouette um und verschwindet mit klimpernden Schritten, bevor ich irgendetwas sagen kann. Ich blicke ihr hinterher.

      »Wir sind genau zum richtigen Zeitpunkt hier!« Ole weiß natürlich schon Bescheid. »Vier Tage lang finden statt dem Tagesprogramm Sessions bei den großen Gurus statt. Das Who’s who der Tantra-Szene ist angereist, und wir sind so was von dabei.« Er ist im siebten Himmel.

      Ich hoffe, ich bin bis dahin wieder fit.

      »Was machen wir jetzt?«, fragt Ole. Er hat bis acht Uhr morgens getanzt und ist kein bisschen müde.

      »Ich muss zurück. Bin superplatt.«

      Als ich aufwache, höre ich das Meer rauschen. Ole schläft. Ich setze mich auf die kleine Terrasse. Mein Körper fühlt sich gut. Gesund. Das Blau des Ozeans schimmert durch die Palmen, die Ruhe des frühen Morgens trägt mich durch die Augenblicke. Ich lese ein paar Seiten, muss aber ständig den Blick von dieser Terrasse auf die Palmen und das Umland schweifen lassen. Also stehe ich auf, schleiche zwei Schritte, um dann einen Stuhl ›aus Versehen‹ so geräuschvoll zu verrücken, dass Ole aufwachen muss. Er dreht sich widerwillig zur Seite und öffnet die Augen. Er lächelt, und obwohl sein Körper schlummern möchte, vertreibt die Gelegenheit, etwas zu erleben, die Schläfrigkeit aus seinen Gliedern. Wir sind in Indien! Ole der Frühaufsteher. Es stimmt: Dieses Land hat Zauberkraft.

      Wir wandern um die Klippe herum. Vereinzelte Gestalten laufen den Strand entlang, machen Yoga oder lassen sich vom Tagesbeginn verzaubern. Wir meditieren. Gemütliche Stille. Danach werfe ich alle Pläne über den Haufen, laufe zu einem Laden, den ich gestern entdeckt habe, und leihe mir ein Surfbrett aus. Meine erste Reise ohne Surfbretter – einen Tag lang. Die Wellen sind nur hüfthoch, aber wunderschön. Die ersten Paddelzüge aufs Meer hinaus sind voller Leichtigkeit, weil das lange Brett wie ein Ozeandampfer über das Wasser gleitet. Alles ist so mühelos. Diese großen Planken schweben ganz von selbst. Ich setze mich weiter draußen aufs Longboard und warte. Das volle tropische Grün schmiegt sich an den Strand, der weiter vorne im Wasser verschwindet, der Ozean ist tiefblau, außer mir ist weit und breit kein Surfer zu sehen. Dann kommt eine süße Welle auf mich zu. Sie erhebt sich langsam, ich bringe mich in Position, sie schiebt mich an, ich hüpfe auf die Füße. Das Brett gleitet behände los, ich steuere es an die steileren Stellen der kleinen Wasserwand und nehme Fahrt auf. Zscchhhh. Sanfter Wind rauscht um meine Ohren, ich fliege über das Wasser. Mein Körper lacht, ich laufe ein paar Schritte nach vorne, drehe mich um die eigene Achse, das Longboard wird zum Tanzparkett. Dann verliere ich das Gleichgewicht und plumpse ins Wasser. Ich hebe den Kopf aus dem kühlen Nass, und Freude schwimmt durch mein Gemüt. Ich summe ein Lied, während ich mich auf das Brett hinaufziehe und wieder nach draußen paddele.

      An jedem anderen Strand der Welt wäre das nichts Besonderes. Und jetzt: Euphorie, Herzrasen und der Wunsch nach Meer. In hüfthohen Wellen! Natürlich schön clean und mit etwas Druck, aber alles andere als Superwahnsinn. Keine massive, steile Wasserwand und nicht das, wofür ich seit über zwei Jahrzehnten all die Reisestrapazen auf mich nehme. Trotzdem ist heute alles perfekt, und ich weiß, dass das nicht an Indien liegt, sondern an mir. So entspannt, so erfrischend, so federleicht. Im Line-up angekommen, baut sich schon die nächste Welle auf. Ich paddele los, spüre das Gleiten, kann das alles nicht glauben und schieße davon.

      Ich surfe eine gute Stunde und freue mich darauf, wenn ich im hohen Alter endlich Longboarder werde. Eine der schönsten Sessions, die ich je erlebt habe. Ausgerechnet in Miniwellen!

      Nach dem Mittagessen gehe ich zu einer Yogastunde, die auf einem der zerknitterten Zettel angepriesen wurde, während Ole den Tag im Love Center verbringt (»Love Temple!!!«) und uns für das Tantra-Festival anmeldet. Anmelden ist einfach, Mitmachen dann die Krux.

      Am späten Nachmittag treffen wir uns in unserer Hütte, um etwas später zurück nach Arambol zu latschen.

      Der Sonnenuntergang steht bevor.

      Der Strand sprüht vor Leben. Die Sonne senkt sich hinab zum Ozean, Lagerfeuer brennen, Funken hüpfen, tanzen, und Rauchschwaden klettern in die Luft.

      Die russischen Pauschaltouristen gehören, so wie wir, zu den Zuschauern. Sie haben sich von ihren Liegen erhoben und zur Beach-Bar geschleppt. Einige wanken bereits, andere führen bunte Shorts und Wohlstandsbauch spazieren, um frische Luft zu atmen oder das Spiel der Spirituellen zu betrachten. Überall ist jede Menge los, der Strand hat sich in ein geschäftiges Zirkus-, Zauber- und Zigeunergelände verwandelt.

      Eine kleine Gruppe trifft sich für eine Yoga-Session. Die Matten werden in Herzform ausgerollt, in der Mitte flackert eine Kerze. Es riecht nach Marihuana, da sich die Israelis mit den Rasta-Jungs zusammengehockt haben, um einen Strandabschnitt mit Qualm und Ganja zu versorgen. Geschwollene Augen und vergilbte Finger, aber auch ein Freiheitsschmunzeln im Gesicht. Zehn Meter dahinter steht ein nackter, dürrer Mann mit schütterem blondem Haar, der konzentriert in die Sonne starrt. Beim Versuch, zu erblinden, reißt er in ruckartigen Bewegungen seine Arme in die Luft. An der Wasserkante steht ein Pärchen in inniger Umarmung. Wunderschön. Genauso wie die anmutig fließenden Bewegungen einer hundertjährigen Tai-Chi-Oma. Einige Schritte weiter sitzt eine Gruppe zusammen, die Augen geschlossen, die Münder zum Himmel gestreckt und weit geöffnet. Sie brummen das heilige Om. Zwei Freunde unterhalten sich im Kopfstand. Links von uns werden Tische aufgebaut, die mit Schmuck und heiligen Steinen, Chakren-reinigenden Kristallen und Muscheln und Ölen und Glücksbringern bestückt werden. Im Zentrum steht Ganesha. Ein ganzes Heer von Statuen, denn der Gott mit dem Elefantenkopf erfreut sich der allergrößten Beliebtheit. Er hilft, Hindernisse zu überwinden. Ein Freund der Suchenden. Ein Ganesha in Miniaturausführung baumelt um meinen Hals. Die Verkäufer sind Aussteiger mit sonnengegerbter Haut, die den Unerfahrenen total überteuerte Esoterikwaren andrehen, um über die Runden zu kommen. Männer mit breiten Schultern und offenen Holzfällerhemden über der behaarten Brust, Frauen mit wilden Tätowierungen auf den Armen und alle mit Verkaufshoffnung in den Gesichtern. Aber auch Verzweiflung, denn der Versuch, der kühlen Eintönigkeit des heimischen Arbeitsalltags zu entkommen, lässt sie nun hinter diesen Ständen versauern. Ich verstehe sie, hab auch keine Lust, so viel zu knechten, möchte aber auch nicht tauschen.

      Einer mit schwarzen Locken folgt meinem Blick: »He is a picaro, a blessed dancer and limber lover.« Er zieht die Augenbrauen hoch. Ich nicke. Ganesha ist ein munterer Begleiter. Weil kein Kaufinteresse besteht, wendet sich der Mann mit Unmut ab.

      Indien ist das Eldorado