Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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sich in den Sechzigern durch den Nahen Osten in ihr gelobtes Land geschlagen haben.

      Wir wandern das Meer entlang, bleiben nach einer kurzen Weile stehen, breiten die Handtücher aus. Kleine kristallblaue Wellen rollen heran. Sie verzaubern mich sofort. Seit über zwanzig Jahren reise ich kreuz und quer über den Planeten, weil die Liebe zu den Ozeanen zu meiner lebensbestimmenden Leidenschaft geworden ist. Surfen ist ein wunderbares Hobby. Nicht nur weil es mir die schönsten Momente im Wasser geschenkt hat, sondern auch weil ich auf der Suche nach der perfekten Welle durch so viele Länder und Kulturen streunen darf. Dabei kommt es zu Begegnung und Momenten, in denen alles stimmt. Wertvolle Sekunden, in denen das Subtile überwältigend ist. Magie. Es gibt nichts Schöneres, und es gibt nichts, was mir mehr Zuversicht schenkt.

      Und jetzt Indien. Ein Kontinent, der die Wellenreiter nicht in Wallung bringt, und meine erste Reise seit zwanzig Jahren ohne Surfbretter. Neuland.

      Aber Indien war immer klar. Vielleicht schon, seit ich mit 16 Jahren mein erstes Buch über Taoismus und Wu wei, die Kunst des Nichtstuns, gelesen habe. Die Impulse der fernöstlichen Philosophie haben mich bewegt und wurden zu einer zweiten treibenden Faszination. Sie nährten meinen Lebenshunger. Zunächst vorsichtig und dann mitten rein.

      Genau wie beim Reisen: Pauschaltourist zu Schulzeiten, trieb es mich später in den vergessenen Dschungel einer entlegenen Insel. Oder beim Surfen: erst mit den kleinen Wellen spielen, und plötzlich Monster-Freakset auf die Fresse. Der Augenblick, wenn sich eine große Welle vor mir auftürmt, eine haushohe Wand aus Wasser in der nächsten Sekunde über mir zusammenbricht, mich unter Wasser drückt und durch die Gegend schleudert, bleibt für immer. Danach zittern die Knie, aber im Rückblick schmunzeln die Augen immer so schön. Es ist die Intensität, die mich aufwühlt. So ging es mit dem Reisen, so ging es mit dem Surfen, so geht es mit dem Blick nach innen. Von Büchern zu Workshops und Seminaren, zu stiller Meditation und wilder, zum Besuch bei Gurus und großen Lehrern, zu einzigartigen Momenten und natürlich gemeingefährlichen Rückschlägen.

      Indien ist das Epizentrum. Hier tummeln sich die Weisen oder endgültig Verrückten. Buddha, Osho und Asketen. Yoga, Tantra, Hinduismus. Hängengebliebene Hippies, Erleuchtete, Propheten, Großmeister der Einbildung, Zufriedene mit kleinem Glück. Ein Subkontinent, der von Suche und Offenheit durchdrungen ist. Vielleicht nicht nur ein Subkontinent – vielleicht ein Energiefeld. Eine Kraft. Sicher ein Ort, an dem viele bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen, sich Ungewöhnlichem zu stellen, neue Wege zu beschreiten, um etwas zu finden, von dem sie noch nichts wissen. Ein Schatz im Inneren. Es ist die aufopferungsvolle Suche nach etwas, das es vielleicht gar nicht gibt. Dazu braucht es Sehnsucht. Und einen Mount Everest an Vertrauen.

       Trust!

      Und die Menschen hier lachen viel. Das erinnert mich: Ich bin nach Indien gekommen, um etwas zu erleben, aber auch um etwas mitzunehmen. Etwas, das in mir wohnt, etwas, das mich aufrüttelt, weil mein Leben zu Hause farblos geworden ist. Absehbar und ohne Witz.

      Ich lege mich hin und betrachte den Himmel. Ole ergreift die Wasserflasche, trinkt einen Schluck, bietet sie mir an, haut sich zurück aufs Handtuch. Minuten vergehen. In Rückenlage, der Planet Erde unter und Mama India über uns. Meeresrauschen in meinen Ohren, sanfte Brise auf meiner Haut. Der ewige Horizont über dem Ozean auf der einen und das gelobte Land auf der anderen Seite. Wir erheben uns gleichzeitig, setzen uns hin und richten die Wirbelsäulen auf. Wir grinsen, weil wir wie ein altes Ehepaar sind.

      Jetzt wird meditiert. Ich verabschiede die Traumstrandkulisse, schließe die Augen, beobachte. Körperempfindungen: ein Kribbeln, Anspannung oder Bewegungsdrang. Mein Kopf brummt, der Magen ist mit dem Wiederaufbau beschäftigt. In den Handflächen ist immer was. Leere, Raum, Ausdehnung. Einbildung? Ich betrachte den Atem. Ein – aus – ein – aus – eher flach, kein Grund für Korrektur. Ich frage mich, ob die Wellen hier auch größer werden. Das sind meine Gedanken, denn die sind niemals still. Sie sind ein Teil von mir. Einfach vorbeiziehen lassen wie weiße Wolken. Einfach.

      Nach den zehn Tagen Vipassana im Schweigekloster und den zwölf Stunden Meditation täglich dauerte die Gedankenlosigkeit Minuten lang. Meisterlich. Leider habe ich zwei Monate später mit dem Meditieren aufgehört und alles verlernt. Es ist also wieder mal der Kopf, der das Zepter in meinem Wesen in den Händen hält.

      Ein alter Bekannter meldete sich mit guten Fragen: ›Was bringen die spirituellen Übungen?‹

      Die Meditation, die Disziplin, die Stille, die wilden Sachen, das Öffnen der Gefühlsventile.

      Ich weiß es nicht.

      Aber es ist schön, den Schutzpanzer abzustreifen. Das Herz zu öffnen. Neues zu erfahren. Für mich! Es ist ein Hobby. Mehr aber auch nicht. In den westlichen Leistungsgesellschaften hat man den Fokus auf Rationalität gelegt. Auf Verstand, Kontrolle, Sicherheit, Funktionieren. Auf Angestelltengehorsam und Gesellschaftskonformität. Und auf das Außen, auf materielle Dinge wie Wohlstand und Beruf. Auf Gemütlichkeit. Auch hier kann Wärmendes geschehen. Tiefe Freundschaften, ein behagliches Zuhause, Kinder und Familie zum Beispiel. Irgendwie geht es doch immer nur um Liebe.

      Na gut, manchmal geht es auch um Benzinpreise, Umsatzsteuer und schlechtes Wetter.

      Aber in mir schlummert ebenso die Sehnsucht, unter den Tellerrand zu gucken. Der Blick nach innen ist so abenteuerlich wie Reisen oder Surfen. Wenn man Lust drauf hat. Wer Angst, Traurigkeit, Wut, Scham und anderen Gefühlen begegnen möchte, für den wird es kunterbunt.

      Und Indien ist in. Ein Trend. Wer unlösbare Probleme hat, der wird spirituell, der muss nach Indien. Wer keine hat, der findet sie. Es ist ein Spiel mit dem Feuer oder eine Humormutprobe.

      Ich will ehrlich suchen, mich der Tiefe öffnen, aber auch staunen und den Kopf schütteln dürfen. Ich bin gespannt, welche Magie mir in diesem Land begegnen wird. Was es mit mir macht.

      Mein Magen rumort, das Herz klopft, denn das wird alles kein Spaziergang. Alles ist möglich und am Ende hoffentlich gut. Also auch zu Hause, denn ich möchte mit einer Veränderung zurückkehren.

      In den letzten paar Tausend Jahren wurden unfassbare Methoden entwickelt. Übungen mit Vulkankraft, Atemtechniken, die den Menschen in animalischen Wahnsinn katapultieren. Diese Übungen, allein, mit Partner, in Gruppen sind abgefahren. Manchmal schwierig oder verstörend. Aber es ist befreiend, wenn die Tränen fließen dürfen oder die Fäuste geballt werden, um loszubrüllen. Manchmal wird man mit Trance belohnt, dem Drogenrausch ohne Substanzen, manchmal mit wohltuender Leere.

      Und wieder: Was soll das bringen?

      UND: Was ist Einbildung und was real?

      Zwei Fragen, die mich im Idealfall so sehr interessieren wie weiße Wolken. Manchmal muss man die Zweifel Zweifel sein lassen und trotzdem weiter gehen.

      Ich höre das Meer rauschen, die Vögel zwitschern.

      Vielleicht kann Indien mir eine Antwort schenken. Vielleicht wird dies eine spirituelle Rei…

      »Du fragst dich doch die ganze Zeit, ob du hier noch surfen kannst!«

      Ich öffne die Augen. Ole setzt eine Sonnenbrille auf. Er hat mich voll ertappt, der verdammte Gedankenleser.

      »Was ist denn das für ein mieser Diss? Ich kontempliere!«

      Meditatives Denken. Zuweilen bemerkenswert, weil Intuition und Bauchgefühl mit kühnen Vorschlägen überraschen. Jetzt eine gute Ausrede fürs Abgelenktsein, denn er hat mich erwischt.

      »Okay«, beschließt Ole, »ich habe auch keinen Bock mehr zu meditieren. Lass uns ein bisschen durch den Ort spazieren.«

      Wir verlassen den Strand und laufen an winzigen Läden, baufälligen Gebäuden, kleinen Geschäften, einem verstaubten Kopierladen und dubiosen Agenten vorbei.

      Es gibt kleine Hotels und Restaurants sowie dreckige Hütten mit Plastiktischen und Speisekarten. Dazwischen Wohnhäuser aus Beton, selbsternannte Hostels, Internetcafés, eine Arztpraxis. Ich versuche, mich zu orientieren. Die Hauptstraße besteht aus festem Lehmboden und verläuft parallel zum Meer. Die meisten Gebäude trennen den Strand vom Inland und haben auf der Rückseite die