Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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gegenseitige Aufmerksamkeit entsteht Nähe. Der ältere Mann beginnt. Er wünscht sich Loslassen und Freundlichkeit. Er vermisst das Gefühl, dazuzugehören im Leben, und hofft, es hier zu finden. Oder nicht mehr suchen zu müssen. Sein Gesicht entspannt, meins genauso.

      Die Mädels bringen unterschiedliche Themen weiblicher Natur mit. Da ist prickelnde Neugierde, Lebenslust, aber auch Angst, verzweifelter Trennungsschmerz und Experimentierfreude. Und Frau sein zu dürfen, sich anzulehnen und mal bedürftig zu zeigen. Jede ist einzigartig. Bei der Ängstlichen fühle ich Tränen hinter meinen Augen. Bei denen, die gehalten werden wollen und sich danach sehnen, nicht stark sein zu müssen, spüre ich eine bewegende Authentizität und Ehrlichkeit. Und Mut. Warum sind nicht alle Frauen so? Vermutlich wegen der Gleichberechtigung, die zwar total sinnvoll ist, aber auch immer mehr dazu führt, dass die Frauen in unserer Gesellschaft wie Männer werden. Stark, selbstsicher und kühl. Autark. Schade, wenn das alles ist. Denn wer soll die Welt retten? Sicher nicht die Männer! Oder: sicher nicht die Männer, die in ihrer herzlosen Männlichkeit gefangen sind. Was dieser materialistische, konsumgeile, plumpe Planet braucht, ist Weiblichkeit. Gefühl, Aufmerksamkeit, das Zarte, das Verletzliche, und ich will sie alle nur noch in die Arme schließen.

      Als ich an der Reihe bin, fallen plötzlich deutsche Worte aus meinem Mund. Ohne Vorwarnung beschreibe ich meine Scheu, meine Ängste, nicht gut genug zu sein, und dass ich mich oft allein fühle. Traurigkeit steigt in mir auf, ein stilles Beben zwängt sich durch meine Brust. Eben noch Aufbruch, jetzt Einbruch. Aber so ist Tantra. Es passiert. Intensive Momente, während die anderen mir Raum schenken. Aufmerksamkeit, Anteilnahme, auch wenn sie die Bedeutung meiner Worte nicht verstehen. Vielleicht verstehen sie so sogar noch mehr. Ihre Nähe ist fühlbar. Alle verneigen sich, bedanken sich für meine Offenheit, und eine junge Frau sagt in kristallklarem Deutsch: »Das war schön! Ich danke dir.« Sie lächelt.

      Ich bin verwirrt, aber es macht sowieso keinen Sinn, sich hinter Sprache zu verstecken. Oder irgendwas.

      Wir fallen in eine Gruppenumarmung, sind bewegt von diesem unschuldigen, offenen Einfach-so-Sein. Es ist schön, dass es in der Riesengruppe nun ein paar Menschen gibt, die füreinander da sind. Familie. Nach einer Stunde ist die Eröffnungszeremonie abgeschlossen. In 15 Minuten finden die ersten Sessions in den beiden Hallen statt. Die klare Präsenz und meditative Aufmerksamkeit verwandelt sich in einen Hühnerhaufen. Alle wuseln durch die Gegend, zu ihren Sachen, trinken aus der Wasserflasche, drücken noch flott einen Bekannten, flitzen zur Toilette, gleich geht’s los.

      Ich entscheide mich für: Dauerorgasmus.

      Wir versammeln uns in der vorderen Halle, der Lehrer betritt den Raum. Taozen ist ein schlanker, großer dunkelhäutiger Yogi mit wachen Augen. Sein kahl rasierter Schädel glänzt mit seinen Zähnen um die Wette. Er schaut in die Runde, richtet seine Wirbelsäule auf, schließt die Augen, lässt Stille geschehen, etwas breitet sich um uns, in uns aus. Aufmerksamkeit oder Klarheit oder subtile Energie oder irgendwas. Vielleicht nur Einbildung, aber meine Neugierde wächst. Jetzt und hier sind alle total bereit.

      Er begrüßt uns mit einer kurzen theoretischen Einleitung. Der Höhepunkt wird nicht erreicht, er kommt von selbst. Eigentlich ist die Ekstase immer da, nur sind wir voll bis oben hin mit Blockaden, Kontrolle und Verspannung – die man lösen kann. Er lächelt. Der Orgasmus fällt über dich her, wenn du ihn lässt. Eine energetische Explosion oder eine nach der anderen, denn es gibt ein Rezept beziehungsweise vier Zutaten für den Orgasmus:

      1. Breath (Atmung)

      2. Sound (Geräusch)

      3. Movement (Bewegung) und

      4. Sensation (Empfindung).

      Schön. Vier Schritte. Kein Hexenwerk, sondern ein einfaches Handbuch zum Dauerorgasmus. Meditation statt Blowjob, und Höhepunkt nicht nur in den Kissen, sondern auch beim Parkspaziergang. Vier Punkte, aufgelistet wie in einem »Brigitte«-Artikel. Mehr braucht es nicht. Er grinst. Die Halle ist mit über hundert Menschen gefüllt. Eine Pause entsteht, niemand rührt sich. Wir haben verstanden, aber wissen auch nicht, wovon er spricht.

      Es folgt eine Übung, in der wir, jeder für sich, die vier Aspekte praktizieren. Taozen nimmt ein Mikrofon, leitet an, und hundert Menschen werden zu einer zunächst nur atmenden, dann stöhnenden, sich räkelnden, wilden Meute. Der Raum wird wach, Feuer entsteht, es prickelt in der Luft und in den Menschen. Die plötzliche Intensität ist überall, die Gruppe lechzt, alles ist heller, heißer, näher, vibriert. Nach zehn Minuten spricht er uns in eine Entspannungsphase, die sich nach der glühenden Raserei wie ein stiller Ozean in mir ausbreitet.

      Taozen lächelt, während wir uns sammeln, den Schweiß von der Stirn reiben und wieder aufrecht hinsetzen. Wir haben noch gar nicht angefangen.

      Er fragt nach einem Freiwilligen. Hände schießen in die Luft, eine junge Frau aus der dritten Reihe wird auserwählt. Sie ist etwa dreißig Jahre alt, hat schulterlange Locken, helle Haut, trägt ein dunkles Top und eine knielange schwarze Stoffhose.

       »What’s your name?«

       »Leila. From Poland.«

       »Leila, are you ready for an orgasm?«

      Sie kichert. »Yes.«

      Taozen zieht die Augenbrauen hoch: »Then, come here and lay down …«

      Sie legt sich auf den Rücken. Taozen kniet vor ihr, blickt in die Runde und erklärt die Rollen. Bei dieser Übung gibt es einen Giver und einen Receiver. Der Giver gibt. Sonst nichts. Er erfreut sich nicht, er genießt nicht, er ist nicht stolz auf die Effekte. Er dient, ohne zu empfangen. Respektvoll. Ohne Erwartung. Ohne Lohn. Er gibt. Ehrlich. Selbstlos.

      Der Receiver entdeckt sich selbst. Seine Aufgabe besteht darin, nur zu nehmen. Hier wird nichts vorgetäuscht, damit sich der Giver besser fühlt, oder eine Reaktion vorgespielt. Der Receiver kümmert sich nur um sich. Er atmet, er bewegt sich, er macht Geräusche und nimmt Sensations wahr. Taozen schaut von einem regungslosen Gesicht zum nächsten. Es ist so weit. Er blickt vor sich: »Ready?«

      Leila nickt.

      Taozen badet in Aufmerksamkeit, betrachtet sie freundlich, flüstert zu ihr hinab: »You are safe, please close your eyes.«

      Eine stille Minute dient der Entspannung, dem Finden der Ruhe, dem Vertrauen, dann spricht er für alle hör- und sichtbar laut und bestimmt zu ihr:

       »Relax and breathe. Move and make sensitive sound out of your hips. And explore all the sensations.«

      Die Probantin räkelt sich, seufzt und atmet.

       »Pleasure. Pain, pleasurable pain and painful pleasure. Open your mouth.«

      Leila folgt seinen Anweisungen, der Rest des Raums wagt keine Bewegung.

      Taozen atmet langsam aus.

       »Okay, let’s give it a go …«

      Er hebt seine Hände vor seine Brust. Leilas Atmung wird sofort intensiver. Er führt seine Handflächen in einem Abstand von circa dreißig Zentimetern über ihren Körper, streicht durch die Luft, und plötzlich stöhnt sie auf, als hätte jemand den Startknopf gedrückt. Unglaublich.

      Ein Youtube-Video schießt in meinen Kopf.1 Fake. Garantiert. Ole war begeistert. Ein Typ umgarnt die Aura einer Frau, ohne sie zu berühren, und die flippt völlig aus. Ich hab’s gesehen. Ich hab’s nicht geglaubt. Fake! Auf j-e-d-e-n Fall.

      Alle Blicke sind auf das Zentrum gerichtet. Leila schlägt die Beine übereinander, ihr Bauch verkrampft, sie spannt die Schultern an.

      »Breathe«, befiehlt Taozen.

      Leila atmet aus, und plötzlich wird sie erfasst.

      »Ah, Aahh, AAAahh, AAAAHHH.« Sie stöhnt laut und heftig.

      Taozen hält beide Hände im selben Abstand über ihrem Bauch, woraufhin ihr Magen zuckt und ihre Hüfte nach oben schießt. Taozen wirkt unbeteiligt, schaut uns an, spricht wieder: »Move a