Andreas Brendt

Ganesha macht die Türe zu


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den anderen als für mich. Ich will gut genug sein, nicht seine Zeit stehlen, einen heiligen Moment mit ihm erschaffen. Und ja, ich wüsste so gerne, was mein Gegenüber sieht, in mir, mit mir, aber hier lässt sich nichts erzwingen. Es ist besser, zu entspannen. Ziellos zu sein. Dann beginnen irgendwann die Phänomene.

      Ich liebe den etwas ungelenken blonden Jungen, der vor mir sitzt. Er ist Mitte 20, wirkt verunsichert, aber ist damit total authentisch. Schön. Furcht liegt in der Luft. Bei ihm, bei mir, ich weiß es nicht, aber jetzt haben wir die Connection. Wir lassen sie da sein, wir versinken darin, umarmen uns nach den zehn Minuten, wir Brüder.

      Bei der Frau danach ist es Spielerei, ein Zwinkern, ein Lächeln, mit dem ich nichts anfangen kann. Sie scherzt, zeigt eine Maske anstatt ihr Inneres. Wohin wird diese Reise gehen? Sie lenkt ab – steige ich darauf ein, oder ist da noch mehr? Ich starre in ihre dunkelblauen Augen, ihr Gesicht verschwimmt, plötzlich taucht eine Unsicherheit darin auf. Etwas geschieht. Etwas Gutes! Vielleicht Wahrheit, denn wir finden uns. Natürlich wacht hinter der bröckelnden Fassade auch die Angst, nicht zu gefallen. Entlarvt zu werden, denn der Blick in die Augen ist das Tor zur Seele. ›Gesehen zu werden‹ ist ein Wagnis, denn es ist uns peinlich, wenn der andere die Muster erkennt, bevor wir selbst sie realisieren. Zuerst habe ich ihre Spielerei erkannt, sie ertappt, nun sehe ich ihre Unsicherheit. Was sieht sie? Was fühlt sie? Ohne Maske spielt das keine Rolle, denn jetzt spüre ich ihr Wesen. Oder meins. Ich verstehe ihre Unsicherheit, weil sie meiner so ähnlich ist. Und das sieht sie. Sie entspannt, kann sein, muss sich für gar nichts schämen oder irgendetwas anzetteln, weil es reicht, dass wir hier voreinander sitzen und uns begegnen.

      Die Unsicherheit wird zu Freundschaft, wird Geborgenheit. Ihr Vertrauen in mich schenkt mir Zuversicht. Unsere Verbindung ist jetzt zart und schön, eine subtile Weite taucht auf. Die fremde Frau ist offen wie ein Tagebuch, nah, ich selbst auch. Und plötzlich ist da etwas. Wie ein Lächeln, das zwischen uns durch die Luft segelt. Als nach zehn Minuten plötzlich die Zimbel erklingt, grinsen wir und schütteln mit dem Kopf. Die Umarmung ist sanft und innig, der abschließende gemeinsame Moment unglaublich intensiv. Wir werden belohnt, weil wir uns eingelassen haben.

      Ich habe das Gefühl, dass ich meine vier Partner, aufgrund der Erfahrungen in der letzten Stunde, seit Ewigkeiten kenne. Das tut gut. Vor allem auf diesem Festival. Dabei ist Eye Gazing ein Werkzeug. Die offene Begegnung, die Nähe zu einem Menschen, ist ein Weg, um voll und ganz und so was von da zu sein. Mehr zu spüren, weniger die Vergangenheit zu erinnern oder an die Zukunft zu denken und so im Augenblick anzukommen.

      Deshalb, erklärt die Gruppenleiterin, ist Spüren und Empfindung wichtig.

      Bewusstsein mit allen Antennen. Die Gnostiker zum Beispiel beschreiben nicht nur fünf Sinne, sondern zwölf. Zwölf Antennen.2 Wie viele natürliche Antennen, wie viel Gespür verkümmert, weil sich der Mensch auf Technik verlässt, weil er der Rationalität die Totalgewalt über das Leben lässt. Dann wird alles im Leben von dem Geplapper in unserem Kopf bestimmt.

      Stille entsteht. Ihre Worte hallen nach.

      Wir sitzen im großen Kreis. Einige habe ich im intensiven Augenkontakt kennengelernt, und die anderen gehören dazu. Oder ich gehöre zu den anderen. Auf einmal sind wir eine Gemeinschaft. Wir betrachten uns, schließen nochmals die Augen, spüren, was da ist. Zwischen uns, um uns. Ist menschliches Bewusstsein oder Emotion oder Zuneigung messbar? Oder sind diese subtilen Aspekte der Existenz nur mit den geheimen menschlichen Antennen zu empfangen. Die Gruppenleiterin hält die Präsenz noch eine Weile, bevor wir die Halle verlassen werden. Sie gibt uns eine Hausaufgabe: Bleibt in dieser Aufmerksamkeit. Verfallt nicht in die Spiele und Muster, sondern spürt den Augenblick. Er ist alles, was es gibt.

      In der Zeit nach dem Abendessen bis zur abschließenden Tanz-Session nehme ich an einer Männerrunde teil. Ein junger Skandinavier lädt ein. Er heißt Oscar, ist 34 Jahre alt, trägt einen gut gestylten Fünf-Tage-Bart und eine Lederweste. Wir sitzen zusammen im Sand.

      Es ist etwas besonderes, wenn Männer in einem geschützten Raum zusammenkommen. Wenn Offenheit da ist, Verbundenheit entsteht und wir statt zu Konkurrenten zu Brüdern werden. Es tut gut, sich nicht zu verstecken mit den Qualitäten des männlichen Wesens, die häufig kleingehalten werden. Eigenschaften, die nichts in einer kultivierten Gesellschaft zu suchen haben, die roh sind, die bedrohlich aussehen, die zu viel sind. In einer unterstützenden Gemeinschaft sein zu dürfen, was Mann ist, ist wie Befreiung. Es ist Ehrlichkeit gegenüber unserer Natur.

      Diese Runde allerdings ist an Peinlichkeit kaum zu überbieten. Oscar, der Gruppenleiter, erzählt uns stolz davon, wie sich sein Leben verändert hat, seit er keine Pornos mehr guckt, und wie man Frauen anspricht. Er nennt seine besten Sätze. Der Typ neben mir macht sich Notizen. Großartig: auswendig gelernte Parolen, die Frauen von unserer Spontanität und Echtheit überzeugen. Dann doch lieber stottern.

      Als wir uns gegenüber aufstellen sollen, will ich nur noch weglaufen, denn die eine Hälfte spielt jetzt die Damen, die andere die Casanovas, die dem anderen Geschlecht entgegentreten.

      Hier geht es nicht um Männlichkeit oder um das, was wir in modernen Gesellschaften unterdrücken sollen. Die wilde Natur. Die Lust. Das Ungezügelte. Die Kraft, aber auch die Verletzlichkeit. Jeder Mann ist voll davon. Das ist seine Schönheit. Hier jedoch geht es um das Aufführen einer komischen Rolle, um den Damen zu gefallen. Um ihnen siegesgewiss gegenüberzutreten, um spirituelles Eis am Stiel, um Proben, ums Verbessern von Erfolgsaussichten, und sicher gibt es auch dafür eine Berechtigung, aber ich bin froh, als ich diesen peinlichen Zirkus inklusive Homo-Anbagger-Rollenspiel nach schier endlosen fünfzig Minuten hinter mir habe. Oscar rät zum Schluss, die erlernten Techniken gleich heute Abend anzuwenden. Morgen werden wir uns darüber austauschen. Er blickt auf seine Truppe, klopft seinem Nebenmann auf die Schulter. Ich hoffe nur, dass mich niemand mit ihm sieht oder in Verbindung bringt.

      Zum Abschluss des ersten Tages strömen die Teilnehmer des Tantra-Festivals in die große Halle zur Buddha-Disco. Wilder Tanz, alle lassen sich gehen, jubeln, feiern Bewegung, den Tag, die Musik. Da meine Beine vom gestrigen Drum-Zirkel schwer sind, laufe ich um die erste Halle herum zur zweiten. Der Love Room öffnet seine Pforten. Kerzen, Kissen, sanfte Musik, Zeit zum Alleinsein, Zeit für Zweisamkeit, zum Atmen, Meditieren, Kuscheln oder Schmusen. Wie immer ist alles erlaubt. Nichts muss, alles darf passieren. Vorstellungen und Konzepte werden am Eingang abgeben. Vertrauen, fühlen, geschehen lassen.

      Eine Gruppe hält im Love Room ihr Family Meeting ab. Sechs Personen. Sie teilen Erfahrungen des Tages, Gefühle, Widerstände. Damaokaia ist ein Typ Anfang zwanzig, mit tief dunkler Stimme und einer großen Wikingertätowierung auf der Brust. Seine Freundin hat dunkles, wildes Haar. Sie sind ein unfassbar lebendiges Paar, wir haben vorhin zusammen gegessen. Sie liefern sich dem spirituellen Weg total aus und scheuen keinen Schmerz. Sie wollen sich ihren Dämonen stellen, ihre Eifersucht und ihr sexuelles Verlangen akzeptieren, schwach sein dürfen. Ihr Mut, sich allem zu öffnen, ist inspirierend. Das gegenseitige Vertrauen wird immer wieder auf die Probe gestellt und bekommt so die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen. Die Intensität ist manchmal zermürbend, aber sich fallen lassen zu können ist für die beiden das größte Geschenk: ein anderes, ein offenes Beziehungskonzept. Dennoch frage ich mich, ob die beiden von ihrem Umfeld und ihren Ansichten dazu gezwungen werden, weil eine normale Beziehung, in der es Kompromisse gibt und Genügsamkeit, ihnen nicht spirituell genug ist. Die vier anderen kenne ich nicht, aber die Gruppe wirkt wunderbar vertraut.

      Außer der Sechsergruppe liegt in einem kleinen Berg aus Kissen noch Katarina, eine hübsche, sehr weibliche Russin, der ich vormittags am Eingang zu Taozens Session über den Weg gelaufen bin. Ich setze mich ein wenig abseits in den Love Room, weil ich weder das Meeting noch Katarinas Entspannung stören möchte, und sehne mich nach Zärtlichkeit. Nach Vertrautheit. Typisch Tantra, denn es wird etwas genährt, das sich nach Nähe sehnt.

      Katarina ruht in ihrer Mitte. Ihr Kopf liegt auf einem Meer aus kleinen, quirligen Locken, ihr Brustkorb hebt und senkt sich wie in Zeitlupe. Ihre Gesichtszüge sind gelöst, süß, doch sofort kommt mir ein Gedanke, der mich häufig aufsucht:

      Ich möchte ihr nicht zu nahe treten, ihr den Raum lassen, den sie braucht.

      Oder würde sie sich freuen?

      In