David Frogier de Ponlevoy

Fettnäpfchenführer Vietnam


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oder Hunger verspürt, sich also nicht einfach auf einer Wolke ausruhen kann. Deswegen ist es für die Hinterbliebenen so wichtig, ihren verstorbenen Ahnen nützliche Gegenstände zukommen zu lassen – oder das entsprechende Geld, um sich diese Sachen im Jenseits kaufen zu können.

      In Vietnam trifft man auf eine ganze Reihe von Glaubensrichtungen, Philosophien, Bräuchen, Traditionen und Ritualen, die koexistieren und zum Teil auch stark ineinanderfließen und vermischt werden.

      Zwar lässt sich Zensus-Ergebnissen entnehmen, dass sich nur gut 18 Prozent der Bevölkerung einer Religion zugehörig fühlen, nämlich rund 8 Prozent Buddhisten, 7 Prozent Katholiken, 1,7 Prozent Hòa Hảo, knapp 1 Prozent Cao Đài, knapp 1 Prozent Protestanten und 0,1 Prozent Muslime. Das mag aber daran liegen, dass wesentliche Glaubensrichtungen wie der Ahnenkult oder der Konfuzianismus nicht erhoben oder angegeben werden und dass spirituelle Praktiken oft wie erwähnt eine Mischform aus verschiedenen Strömungen darstellen. Ein realistisches Bild bietet diese Statistik deshalb kaum.

      Die Ahnenverehrung ist in Vietnam weitverbreitet. In den allermeisten Haushalten und Geschäften befindet sich ein Ahnenaltar, auf den Opfergaben wie Früchte, das erwähnte Papiergeld, Papiergegenstände, Obst, ein Schälchen mit Reis und oft auch Schnaps und Zigaretten gelegt werden. Am Ahnenaltar wird regelmäßig, vor allem an Feiertagen und an jedem 1. und 15. Tag des Mondkalenders, zu den verstorbenen Verwandten gebetet, ihnen berichtet und sie um Rat gefragt. Dem Ahnenaltar sollte, wenn möglich, nicht der Rücken zugekehrt werden. Darüber hinaus werden auch Schutzgötter verehrt, unter anderem der Küchengott, der Dorfgott oder der Gott des Meeres.

      Der Konfuzianismus, der auf die Lehren des chinesischen Denkers Konfuzius zurückgeht, dominierte in Vietnam während der Lê-Dynastie im 15. Jahrhundert und prägt noch heute stark die vietnamesische Gemeinschaft und Gesellschaft. Konfuzianismus ist eine eher philosophisch-moralische Glaubensrichtung, die auf Tugenden basiert wie Menschenliebe, Bildung, Gehorsam gegenüber den Eltern (dazu gehört auch die Ahnenverehrung), Untertanentreue und Harmonie in der Familie, im Dorf, in der Provinz und im Staat durch streng hierarchische Über- und Unterordnung.

       HURRA, ES IST EIN JUNGE! DER STATUS DER FRAU IN VIETNAM

      Obwohl in Vietnam die Gleichstellung von Mann und Frau seit 2006 im Gesetz verankert ist, sind konfuzianische Werte in der Bevölkerung immer noch prägend. Diese sehen für die Frau Unterordnung gegenüber dem Vater, nach der Heirat gegenüber dem Ehemann und als Witwe gegenüber dem erwachsenen Sohn vor. Ein Bericht der Weltbank stellt fest, dass in Vietnam nicht nur viele Männer, sondern auch Frauen es ablehnen, dass Frauen Führungspositionen übernehmen.

      Als Karrierehindernis führt der Bericht zudem die Doppelbelastung durch Beruf und unbezahlte Arbeit auf, da Männer immer noch unverändert signifikant weniger Hausarbeit übernähmen. Frauen machen in Vietnam 48,6 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung aus, dies gilt als eine der höchsten Quoten in der Region. Die Ungleichheit der Einkommen ist geringer als in vielen anderen ostasiatischen Staaten (Frauen verdienen durchschnittlich rund 75 Prozent des Gehalts von Männern). Verstärkt von Armut betroffen sind Witwen und alleinerziehende Mütter. Deutlich verringern konnte Vietnam geschlechtsspezifische Ungleichheiten in den Bereichen Bildung und Gesundheit. Die Müttersterblichkeit ging stark zurück.

      Zu den neueren Gesetzen zur Gleichstellung gehört auch eines, das häusliche Gewalt unter Strafe stellt. Der Weltbankbericht bemängelt die Durchsetzung dieser Gesetze als »äußerst unzureichend« und bezeichnet sie als »Lippenbekenntnisse«. 32 Prozent der vietnamesischen Frauen, die verheiratet sind oder waren, haben laut einem Bericht der Vereinten Nationen körperliche Gewalt durch ihren Ehemann erfahren.

      In der patriarchalischen vietnamesischen Gesellschaftsordnung wird von den Söhnen erwartet, die Familienlinie zu erhalten und sich um ihre Eltern und die Ahnenverehrung zu kümmern. Frauen hingegen verlassen bei der Heirat ihr Elternhaus und leben traditionell fortan im Haus der Schwiegereltern. Somit kommt einer Tochter ein minderwertiger Status zu, Paare wünschen sich spätestens bei der zweiten Schwangerschaft sehnlichst einen Sohn. Ein bekannter Satz, der oft Konfuzius zugeschrieben wird, lautet: »Mit einem Sohn hast du einen Nachkommen, mit zehn Töchtern hast du nichts.«

      Diese Geschlechtspräferenz führte zu Abtreibungen weiblicher Föten und damit zu einem kontinuierlich steigenden Ungleichgewicht des Geschlechterverhältnisses in der Geburtenstatistik. 2018 kamen 110 Jungengeburten auf 100 Mädchengeburten (biologischer Durchschnitt: 105:100). Im Bevölkerungsfünftel mit dem höchsten Einkommen und daher leichteren Zugang zu Ultraschalluntersuchungen und Abtreibungen war die Quote noch deutlich höher. Sofern keine »drastischen Maßnahmen« ergriffen würden, könnte es nach Regierungsprognosen im Jahr 2030 rein aufgrund des Geschlechterungleichgewichts für rund drei Millionen vietnamesische Männer schwierig werden, überhaupt eine Frau zum Heiraten zu finden.

      Der Taoismus (oder Daoismus; »der Weg«) ist ebenfalls eine Weltanschauung aus China, die auf den Lehren des Laotse beruht. Eine ihrer Kernelemente ist die »Zweiheit« der Welt, das Wechselspiel von Licht und Schatten. Eines der bekanntesten Symbole ist das schwarz-weiße Yin-und-Yang-Zeichen. Über vielen Hauseingängen hängen achteckige Spiegelamulette mit solchen Zeichen, sie sollen Geister abwehren. Taoistische Elemente erscheinen oft in Verbindung mit dem Mahayana-Buddhismus und dem Konfuzianismus.

      Der Cao-Daismus ist eine sehr junge vietnamesische Glaubensrichtung aus dem 20. Jahrhundert, die ein großes Spektrum an Religionen, Philosophien und historischen Persönlichkeiten fusioniert – von Buddhismus und Konfuzianismus über Christentum und Islam bis zu Shakespeare, Lenin und Victor Hugo. Das zentrale Symbol ist das göttliche Auge im Innern eines Dreiecks, oft mit Strahlen verziert.

      Der Hòa-Ho-Buddhismus hat seine Ursprünge im Mekongdelta als »Buddhismus für die Bauern«. Die Glaubenspraxis zu Hause und im Herzen und die Hilfe für Bedürftige wird über aufwändige, teure Zeremonien und Tempel gestellt.

      Die vietnamesische Astrologie unterscheidet sich von der in westlichen Ländern verbreiteten. Die Tierkreiszeichen im vietnamesischen Mondkalender sind beinahe identisch mit den chinesischen, außer dass in Vietnam die Katze anstelle des Hasen steht. Die insgesamt zwölf Zeichen (Ratte, Büffel, Tiger, Katze, Drache, Schlange, Pferd, Ziege, Affe, Huhn, Hund und Schwein) wechseln im Jahresturnus, sie wiederholen sich also alle zwölf Jahre einmal. Ähnlich wie im westlichen Horoskop werden Kindern je nach Tierkreiszeichen besondere Eigenschaften zugeordnet.

      Der Gang zu einem Wahrsager ist insbesondere vor der Heirat oder vor dem Neujahrsfest (Tết) beliebt. Manche Wahrsager nehmen Kontakt mit Verstorbenen auf, manche benutzen Karten oder bedienen sich der Astrologie oder des Handlesens. Die Wahrsagerei wird aber auch kritisiert. So schreibt Minh Huong in der staatlichen englischsprachigen Tageszeitung Viet Nam News in einem Kommentar, sie sei »weit davon entfernt«, der Wahrsagerin ihrer Freunde den geringsten Glauben zu schenken. Die Autorin berichtet unter anderem von einer Mutter zweier Töchter, die von ihrem Ehemann verlassen wurde – auf Anraten eines Wahrsagers, der ihm nahelegte, eine andere Frau zu heiraten, die ihm dann einen Sohn gebären würde. Sie zitierte außerdem einen Psychologen damit, dass Wahrsager die Rolle eines Therapeuten innehätten und den Leuten Hoffnung und Mut schenken würden, um ihre Alltagsprobleme zu überwinden.

      Es ist möglich, dass Sie in Vietnam hin und wieder mit Glücks- und Pechträgern aus dem Volksglauben konfrontiert werden. Etwa dann, wenn Sie eines Morgens, wenn Sie einen Laden betreten, gebeten werden, doch bitte später wiederzukommen. So geschehen in einem teuren Geschäft in einem luxuriösen Shoppingcenter am Hanoier Westsee. Denn wenn der erste Kunde am Morgen nichts kauft, bringt das Unglück. »Ein Schaufensterbummel am frühen Morgen in Hanoi ist nicht das Angesagteste«, sagte uns eine junge Vietnamesin halb im Spaß, halb im Ernst. Manche Verkäufer sagen auch einfach hoffnungsvoll: »Sie sind mein erster Kunde«, und erwarten, dass Sie dann wissen, welche Verantwortung auf Ihnen lastet. Weitere Dinge, die Unglück bringen, sind das Essen von Eiern oder anderen Nahrungsmitteln, die der Zahl Null ähneln,