Kerstin und Andreas Fels

Fettnäpfchenführer Japan


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hatte auf der Rückfahrt vom Büro stundenlang im Stau gestanden. Kenji hat bereits über Skype seine Tante in Osaka erreicht. Ihr und den Großeltern geht es ebenfalls gut. Erstaunlicherweise ist alles im Haus in bester Ordnung – nur eine einzelne Vase ist umgefallen. Und nicht einmal kaputt gegangen. Als Kenji einen Witz darüber macht, lachen alle erleichtert.

      Erst später, als sie die Bilder vom Tsunami und dem Atomkraftwerk im Fernsehen sehen, fangen sie an, das wahre Ausmaß der Katastrophe zu begreifen.

      Die nächsten Tage und Wochen sind chaotisch. Beinahe täglich gibt es weitere Erdbeben und neue Meldungen aus Fukushima – dass tatsächlich eine Kernschmelze stattgefunden hat, gibt die Betreiberfirma Tepco aber erst zwei Monate später zu. Viele von Frau Watanabes ausländischen Kollegen verlassen mit ihren Familien das Land, als sogenannte flyjin. (Angelehnt an das Wort gaijin – alle Menschen, die keine Japaner sind – werden Ausländer, die nach dem Erdbeben allzu schnell das Land verlassen, leicht spöttisch so genannt.)

      Bald ist Trinkwasser in Flaschen ausverkauft, später dann nur noch streng rationiert erhältlich. Familie Watanabe erhält im Supermarkt eine Zwei-Liter-Flasche Wasser pro Person und Tag. Einige Lebensmittel wie Reis und Eier gibt es bald nicht mehr zu kaufen. Auch Benzin ist knapp, weil die Raffinerien an der Küste zerstört sind. Viele Lebensmittel und Hilfsgüter werden in die vom Tsunami verwüsteten Regionen geschickt, wo sie dringender gebraucht werden als in der Hauptstadt. Ist in den Supermärkten eine neue Lieferung angekommen, bilden sich schnell lange Schlangen, alle warten geduldig, keiner drängelt. Frau Watanabe versucht, immer nur das Nötigste einzukaufen und macht einen Bogen um Hamsterkäufer.

      Immer wieder fällt der Strom aus oder wird für ganze Viertel abgeschaltet, auch fließendes Wasser ist nicht immer selbstverständlich. Strom sparen heißt die Devise, denn viele Atomkraftwerke liegen nach dem Beben erst mal still. Die Klimaanlagen kühlen öffentliche Gebäude und U-Bahnen nicht mehr auf eisige Temperaturen runter, die Automaten bieten keine gekühlten Getränke mehr an, in vielen Bahnhöfen und Geschäften ist jede zweite Neonröhre herausgeschraubt. Szeneviertel wie Shinjuku und Shibuya sind wegen der fehlenden Flut der Leuchtreklamen kaum wiederzuerkennen. Auch Frau Watanabe und ihre Familie versuchen, Strom zu sparen – ganz so, wie die Plakate in den U-Bahnen fordern.

      In Spinat, Pilzen, Milch, Fisch, Tee und anderen Lebensmitteln aus Fukushima und angrenzenden Regionen werden hohe Radioaktivitätswerte gemessen. Die Frau eines deutschen Kollegen, die kaum Japanisch kann, lässt sich ab und zu von Frau Watanabe beraten, weil sie die Herkunftsbezeichnung auf den Verpackungen nicht lesen kann. Auch Frau Watanabe ist vorsichtig geworden beim Einkauf. Bei der Milch achtet sie vor allem wegen ihres Sohnes darauf, nur Produkte aus Hokkaidô zu kaufen – zum Teil zahlt sie umgerechnet vier Euro pro Tüte dafür. Um Joghurt, Gurken und Salat macht sie lieber einen Bogen, die stammen in der Regel aus den kritischen Regionen. Ganz genau kann sie es aber nicht wissen, Skandale um verstrahltes Fleisch oder grünen Tee, die in den Handel gelangt sind, machen den täglichen Einkauf unsicher.

      Auf einem Spielplatz beobachtet Frau Watanabe, wie eine Gruppe von Müttern den Sand zuerst mit einem Geigerzähler überprüft, bevor sie ihre Kinder dort spielen lässt. Und die Mütter sind nicht die einzigen. Immer häufiger werden in Tôkyô sogenannte Hot Spots, Gebiete mit ungewöhnlich hoher Radioaktivität, entdeckt – oft von ganz normalen Bürgern, die lieber auf eigene Faust messen, als den Angaben der Regierung zu vertrauen.

      Trotz allem ist Frau Watanabe dankbar. Dankbar, dass es ihrer Familie gut geht – viel besser als den Menschen in den Regionen, die der Tsunami zerstört hat, besser als den Menschen in den Präfekturen rund um das Kraftwerk. Sie haben alles verloren, haben kein Zuhause und keine Arbeit mehr. Kein Wunder, dass manche sogar freiwillig in den Evakuierungszentren bleiben, anstatt in die Übergangswohnungen zu ziehen, wo sie wieder selber für ihren Lebensunterhalt aufkommen müssten.

      Die Dekontaminierung geht derweil nur langsam voran. Die dick vermummten Arbeiter müssen Erde abtragen, Moos abkratzen sowie Dächer und Wände abwaschen. Und dann muss der verstrahlte Müll noch irgendwo gelagert werden. Tôkyô hat sich bereit erklärt, 500.000 Tonnen verstrahlte Erde zu lagern. Frau Watanabe ist aus Solidarität zu den Menschen aus den betroffenen Regionen dafür, eine Nachbarin jedoch strikt dagegen. Wer weiß, wie stark der Schutt tatsächlich verstrahlt sei, meint sie. Inzwischen gibt es in der Bevölkerung sogar vermehrt die Bereitschaft, wieder Waren aus der Region Fukushima zu kaufen. Um die Bevölkerung zu unterstützen. Ganz so weit ist Familie Watanabe noch nicht, aber sie führen bereits wieder so gut wie möglich ein normales Leben. Sicher, sie waschen Gemüse weiterhin besonders gründlich ab, achten beim Einkauf auf die Herkunft der Lebensmittel und behalten die veröffentlichten Messwerte im Auge, das schon. Aber die Auswirkungen des Tôhoku-Bebens bestimmen nicht mehr ihren Alltag. Ebenso wenig wie die Angst vor dem unvermeidlichen nächsten Erdbeben.

      Herr Hoffmann hat zum Glück nur ein leichtes Beben mitbekommen. Aber – was hat er denn nun überhaupt falsch gemacht? Nun, in Anbetracht der Umstände wird es ihm mit Sicherheit niemand ernsthaft übel nehmen, aber das Trinkgeld für seinen Drink hätte er sich getrost sparen können.

       WARUM GERADE JAPAN?

      Tief unter der Erde lebt der riesige Katzenfisch Namazu. Sobald sich die Menschen falsch verhalten, straft er sie, indem er seinen Körper wild hin und her schlägt. Ein Erdbeben entsteht. Nur der Gott Kashima kann den zappelnden Fisch bändigen, indem er ihn mit einem magischen Felsblock zu Boden drückt.

      Die wissenschaftliche Erklärung für die Erdbebenhäufigkeit in Japan ist ein wenig nüchterner. Die Inselgruppe hat das Pech, an einer tektonisch besonders aktiven Zone zu liegen. Die positive Folge sind die heißen Quellen. Die negativen Folgen: Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis. Nur, was passiert da genau im Untergrund?

      Nach der Theorie der Plattentektonik ist die Erdkruste keine homogene Schale, sondern in circa 20 Platten unterbrochen. Diese Platten schwimmen sozusagen auf einem heißen See aus Magma. Strömungen in diesem teilweise geschmolzenen Gestein bewegen die Erdplatten auf der Oberfläche mit. Die Bewegung beträgt zwar nur wenige Zentimeter im Jahr, hat aber gewaltige Auswirkungen. Auf diese Weise ist Indien durch die Plattenbewegung mit Asien zusammengestoßen. Bei der Kollision faltete sich der Himalaya als eine Art Knautschzone auf. Am erdbebengefährdeten San Andreas Graben in Kalifornien schieben sich die pazifische und die nordamerikanische Platte gegeneinander.

      In Japan treffen gleich mehrere Platten aufeinander. Durch die Strömung aus der Tiefe schiebt sich direkt unter Japan die eurasische über die pazifische Platte. Dabei kommt es zu Verkeilungen der Plattenränder, die sich ab und zu ruckartig lösen und damit kleinere und größere Erdbeben erzeugen. Beim Abtauchen der einen Platte unter die andere bilden sich außerdem Blasen aus Magma, die in der nicht abtauchenden Platte nach oben dringen. Vulkane entstehen. Diese Aktivitäten im Untergrund bescheren Japan rund 40 aktive Vulkane sowie etwa 1.500 Erdbeben pro Jahr.

      Das verheerende Tôhoku-Erdbeben im März 2011 entsteht am Meeresgrund – etwa 130 Kilometer von der Küstenstadt Sendai entfernt (bis zur Metropolregion Tôkyô sind es sogar 370 Kilometer). Mit einer Stärke von 9,0 ist es das stärkste jemals in Japan gemessene Beben. Durch die Wucht des Bebens verschiebt sich Japans Hauptinsel um drei Meter. Auf einer Fläche von 100 mal 500 Kilometern wird der Meeresboden angehoben. Dieses ruckartige Anheben führt zur Bildung einer riesigen Welle – eines Tsunamis. Die Welle trifft die Küste zum Teil mit einer Höhe von über 15 Metern. Die Wassermassen überfluten weite Teile der Nordostküste, reißen Autos, Häuser, Menschen mit – fast 20.000 sterben in den Fluten.

      Das Atomkraftwerk Fukushima Daiichi übersteht das Beben und wird automatisch abgeschaltet. Die Brennelemente müssen jedoch weiter gekühlt werden. Als das Stromnetz zusammenbricht, springt planmäßig die Notstromversorgung an. Kurz darauf trifft der Tsunami die Anlage mit voller Wucht. Die Notstromversorgung wird zerstört, das Kühlwasser kann nicht weiter zirkulieren und verdampft. Nach und nach kommt es durch den Überdruck an vier Reaktoren zu Explosionen, Radioaktivität tritt aus. Rund 30.000 Quadratkilometer Land werden kontaminiert, 100.000 Menschen müssen aus dem Gebiet evakuiert werden.

      Die Hauptstadt ist dagegen vergleichsweise glimpflich davongekommen. Aber das