des Bolschewismus«.172 Als wenn alle Avantgardekünstler in der Weimarer Republik linksextrem gewesen wären! Pazifistische Tendenzen bildeten den Schwerpunkt der vierten Gruppe; hier sah der Betrachter von Otto Dix und George Grosz gemalte Kriegskrüppel.173 Gruppe fünf präsentierte Kunstwerke als Bordellmalereien; von den Künstlern hieß es: »Die Menschheit setzt sich für sie aus Dirnen und Zuhältern zusammen.« Hier waren Überschneidungen mit der dritten Gruppe nicht zu verkennen.174 Die Gruppen sechs und sieben warfen Licht auf die Bedeutung der »Rasse« insbesondere in Verbindung mit Fragen der Eugenik: Das geistige Ideal der modernen Kunst seien »der Idiot, der Kretin und der Paralytiker« gewesen. Gleichermaßen wurden Darstellungen von »Negern und Südseeinsulanern« à la Gauguin verurteilt.175 In der achten Gruppe war der Betrachter mit der sogenannten Judenfrage konfrontiert; beispielhaft dafür standen die Bilder jüdischer Künstler wie Otto Freundlich und Ludwig Meidner (in Kaisers Broschüre auf S. 21 dargestellt).176 (Bei der hastigen Planung der Ausstellung hatten die Organisatoren übersehen, dass es kaum deutsche Juden in den bildenden Künsten gab, weshalb sie Ausländer wie Chagall einbezogen. Ansonsten musste der sprichwörtliche jüdische Kunsthändler als Schreckgespenst herhalten. Max Liebermann, der 1935 gestorben war, blieb verschont, vielleicht wegen seiner allzu großen Berühmtheit.) Die neunte Gruppe schließlich, die letzte, sah ihr Angriffsziel im Begriff der Abstraktion in Form von »Ismen«, demonstriert an Werken des Bauhausnahen Johannes Molzahn und des Dadaisten Kurt Schwitters.177 Die Broschüre brachte dann einen Auszug aus Hitlers Eröffnungsrede im Haus der Deutschen Kunst, die er einige Stunden vor Beginn der Ausstellung »Entartete Kunst« gehalten hatte.178 Zum Ende gab es einen Vergleich zwischen zwei modernen Graphiken mit der Zeichnung eines Psychiatriepatienten; Grundlage hierfür bildeten offensichtlich Schultze-Naumburgs Beispiele von 1932. Welche Graphik von den dreien, lautete die Rätselfrage, ist die Arbeit des Dilettanten? »Die rechte obere! Die beiden anderen dagegen wurden einst als meisterliche Graphiken Kokoschkas bezeichnet.«179
Dass es »Gruppen« gab, in denen Juden und Marxisten angeprangert wurden, war für die Zeitgenossen keine Überraschung. Aber die Fokussierung auf die Kranken, insbesondere die geistig Erkrankten, war eine relativ neue Wendung in dieser »deutschen« Kultur, auch wenn Schultze-Naumburg und Hitler öffentlich bereits häufiger die Verbindung zwischen moderner Kunst und Geisteskrankheit betont hatten. Adolf Ziegler kam in seiner Eröffnungsrede darauf zu sprechen, und die Zeitungen lieferten pflichtschuldigst entsprechende Kommentare ab. Das Hamburger Tageblatt vermerkte voller Abscheu »krankhafte Erscheinungen und Scheußlichkeiten«.180 Schon seit Mitte 1937 war das Regime mit Vorbereitungen für das beschäftigt, was es dann »Euthanasie« nennen sollte: die zwangsweise Tötung von Patienten in psychiatrischen Einrichtungen, an die die Bevölkerung sich gewöhnen sollte. Bereits jetzt wurden die sogenannten Rheinlandbastarde sterilisiert – Kinder unerwünschter Verbindungen zwischen deutschen Frauen und, wie man annahm, farbigen Soldaten aus den französischen Kolonien, die als Angehörige der Besatzungstruppen nach dem Ersten Weltkrieg im Rheinland stationiert waren.181 Ein Gelehrter, dem die Beziehung zwischen moderner Kunst und Geisteskrankheit einleuchtete, war Professor Carl Schneider, der an der Universität Heidelberg die angegliederte psychiatrische Klinik leitete. 1939 – die Ausstellung war noch auf Deutschlandtour – behauptete er in einem Vortrag zum Thema, die verfemte Kunst sei wahrhaft krank. Schneider unterstützte die »Euthanasie«-Politik des Regimes und brachte sich nach dem Krieg in einem amerikanischen Militärgefängnis um.182
Die Ausstellung »Entartete Kunst« wanderte von München nach Berlin, dann weiter nach Leipzig, Düsseldorf, Salzburg, Hamburg und machte sogar in kleineren Orten wie Weimar halt. In Berlin wurden zusätzlich Werke von Heidelberger Psychiatriepatienten gezeigt, um das Publikum mittels Vergleichen zu Hohn und Spott anzuregen. In Düsseldorf sollen Schätzungen zufolge bis Mitte Juli 1938 einige Hunderttausend Besucher die Exponate gesehen haben, und selbst in Kleinstädten wie Stettin hatte man bis Anfang 1939 rund 75 000 Personen gezählt.183 Als die Tour 1941 wegen des Krieges abgebrochen wurde, hatten auch in anderen Gemeinden mehrere Hunderttausend Besucher die Ausstellung gesehen. Abgesehen von der denunziatorischen hatte die Ausstellung auch eine abschreckende Funktion: Niemals mehr sollte entartete Kunst eine »gesunde« deutsche Kultur korrumpieren.184
Zu diesem Zweck wurde die Gesetzgebung kontinuierlich um neue Möglichkeiten für Beschlagnahme und Boykott erweitert. Noch im August 1937 beauftragte Göring in seiner Funktion als Preußischer Ministerpräsident Erziehungsminister Rust damit, alle Museen nach Überbleibseln unerwünschter Kunst abzusuchen; daraufhin habe deren »Ausmerzung« in Preußen zu erfolgen.185 Im Januar 1938 arbeitete Goebbels an einem umfassenderen Gesetz für das ganze Reich, das es den Behörden ermöglichen sollte, alle derartigen Werke ohne Entschädigung zu beschlagnahmen, seien sie in Privat- oder Staatsbesitz. Das Gesetz wurde, mit Rückendeckung Hitlers, am 31. Mai verkündet.186 Drei Jahre später verdoppelte Ziegler seine Bemühungen, gegen jeden vorzugehen, der »Werke der Verfallskunst erzeugt oder solche als Künstler oder Händler verbreitet«.187
Was aber geschah mit all den beschlagnahmten Bildern, Skulpturen und Graphiken? Zumeist wurden sie ins Ausland verkauft, oftmals mit Gewinn für hochrangige Nazis wie Göring oder Hitler, und häufig genug erwarben Schweizer Kunsthändler Werke zu Niedrigpreisen – aus Motiven, die alles andere als altruistisch waren. Jedenfalls brachten sie so die ersehnten Devisen ins Reich. Göring, der aus einer Familie der oberen Mittelschicht mit entsprechendem Kunstgeschmack stammte, soll sich viele Stücke für den privaten Genuss gesichert haben, während er andere, die er nicht schätzte, verkaufte und das Geld in die eigene Tasche steckte. Unveräußerliche Stücke wurden – wie die Bücher ein paar Jahre zuvor – verbrannt. Was die Nationalsozialisten als Gewinn für das Reich ansahen, sollte sich als beklagenswerter Verlust für die zivilisierte Welt erweisen.188
Die Ausstellung »Entartete Kunst« diente als direktes Vorbild für ein weiteres, vergleichbares Ereignis: Im Mai und Juni 1938 wurde in Düsseldorf, der Stadt Robert Schumanns (dessen gelegentliches Misstrauen gegenüber Juden die Nationalsozialisten gern für Propagandazwecke nutzten), eine Ausstellung »Entartete Musik« gezeigt.189 Mit Goebbels’ Zustimmung übernahmen zwei Männer aus seinem engeren Umfeld die Organisation: Hans Severus Ziegler und Heinz Drewes. Ziegler hatte bereits als Intendant des Nationaltheaters Weimar in Thüringen die NS-Kulturpolitik umgesetzt. Geboren 1893 in Eisenach als Sohn eines Bankiers mit internationalen Verbindungen, studierte er in Cambridge und an deutschen Universitäten. Den Doktorgrad erwarb er mit einer literaturwissenschaftlichen Arbeit. (Ironischerweise war Ziegler über seine Mutter mit der New Yorker Musikgesellschaft Schirmer verbunden, die nach Arnold Schönbergs erzwungener Emigration viele seiner Werke publizierte – während Ziegler nicht müde wurde, über den Komponisten und seine Musik herzuziehen.) Für Wilhelm Frick, damals nationalsozialistischer Innenminister in Thüringen, entwarf er den berüchtigten Text »Wider die Negerkultur«, der erahnen ließ, welche Einschränkungen drei Jahre später im ganzen Reich Realität werden sollten. Nach Hitlers Machtergreifung wurde Ziegler zum Staatskommissar für die thüringischen Landestheater ernannt. 1935 folgte eine zeitweilige Suspendierung; man verdächtigte ihn der Homosexualität. Er konnte sich reinwaschen, nur um danach umso eifriger ans Werk zu gehen. Er schloss sich nun eng an Goebbels an und wurde von diesem 1937 in den Reichskultursenat befördert.190
Anfang 1938 tat Ziegler sich mit dem Dirigenten Heinz Drewes zusammen, der ebenfalls von Thüringen aus im NS-Kulturbetrieb Karriere machte. Drewes stammte aus Westdeutschland, war aber Kapellmeister in Altenburg geworden, was er dem zehn Jahre älteren Ziegler verdankte. 1930 hatte er eben dort eine Ortsgruppe des Kampfbunds für deutsche Kultur gegründet. 1937 war Drewes Generalintendant in Altenburg und wurde von Goebbels zum Leiter der neu gegründeten Abteilung für Musik im Propagandaministerium berufen, wo er die Aufgabe hatte, Kompositionen daraufhin zu überprüfen, ob sie »der deutschen Nation schaden könnten«.191
Im Frühjahr 1938 organisierte Drewes im Auftrag des Propagandaministeriums die Reichsmusiktage in Düsseldorf. Es überrascht nicht, dass Ziegler mit seinem Ehrgeiz und ideologischen Eiferertum dieses Ereignis noch mit einer Ausstellung über »entartete Musik« ergänzte. Goebbels hatte nicht darum gebeten, die Veranstaltung aber auch nicht verboten; es solle jedoch kein Aufhebens davon gemacht werden.192 Ziegler hatte eine rigorose ideologische Ausbildung durchlaufen und seine Ansichten über Musik waren so fanatisch wie festgelegt. Der Verfasser verschiedener Traktate zum Thema Kultur hatte