Thomas West

Sammelband 3 Thriller: Neue Morde und alte Leichen


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York Times war per E-Mail ein Bekennerschreiben eingegangen.

      22

      Ein Karussell rotierte in Marions Kopf: Zahlen, Rechnungen, Zahlen, Kontoauszüge, Zahlen, und immer wieder die Fistelstimme des Steuerprüfers. Es war gut gegangen. Marion zog die Beine auf den Sessel und setzte das Sektglas an die Lippen.

      Der Mann von der Finanzbehörde hatte gearbeitet, als gälte es einen Weltrekord aufzustellen. Unglaublich. Morgens um halb acht war er ins Büro geschneit, nachmittags um drei hatte er den letzten Aktenordner geschlossen und sein Laptop zugeklappt. „Fertig‟, hatte er gesagt. Marion grinste. Und „Alles bestens bei Ihnen‟, hatte er gesagt. Marion lachte laut und leerte ihr Sektglas.

      Geschafft, wir haben’s geschafft!

      Jetzt war es kurz nach vier. Marion war sofort nach Hause gefahren. Sie konnte nicht mehr, fix und fertig war sie. Henry musste noch bis musste noch bis zum offiziellen Büroschluss durchhalten. Schließlich war er der Chef. Und die Kunden verlangten nach ihm.

      Sie griff nach der Sektflasche und füllte sich das Glas ein zweites Mal. Feiern war angesagt, sie hatte sich’s verdient.

      Rickys Zimmertür knarrte. Stimmen wurden laut. Rickys Stimme, und eine tiefere, raue. Marion verdrehte die Augen. O Gott! Der fette Jack war bei Ricky.

      Rickys Lockenkopf erschien an der offenen Wohnzimmertür. „Hi, Mom – bin mal unterwegs.‟ Und schon war es wieder verschwunden, das spitze, blasse Gesicht. Von Jack bekam sie nichts zu sehen. Gott sei Dank.

      „Hey, Sohn, komm nicht so spät zurück‟, rief sie Ricky hinterher. „Du hast morgen Schule!‟

      „Kein Problem, Mom.‟ Die Apartmenttür wurde zugezogen.

      Marion seufzte. Der Junge geht seine eigenen Wege. Ganz normal,oder? Mach dir nichts draus.

      Sie stand auf. Mit dem Sektglas in der Hand ging sie ins Schlafzimmer. Dort stand ihr PC. Ihre beste Freundin in Sheridan, Wyoming, hatte morgen Geburtstag. Die Kontakte in die alte Heimat waren spärlich geworden. Zuviel Arbeit. Aber den Draht zu Betty wollte Marion unter keinen Umständen abkühlen lassen. Wenigstens eine Geburtstags-Mail sollte Betty bekommen.

      Marion schaltete den Computer ein. Es ratterte und knisterte im Gehäuse. Das Logo von Microsoft erschien. Aber nur für Sekunden. Dann verwandelte es sich in einen grellen Lichtbalken, und der Bildschirm wurde dunkel. Als wäre ein Film gerissen.

      „Scheiße.‟ Marion schaltete den PC aus und startete ihn erneut. Der Bildschirm blieb dunkel. Noch ein Versuch, und ein dritter und ein vierter. Im Gehäuse des Rechners tat sich allerhand – es tickte und rasselte – auf dem Bildschirm tat sich nichts. „Scheiße.‟

      Marion nahm ihr Sektglas und ging ins Zimmer ihres Sohnes. Was sollte Ricky dagegen haben, wenn sie seinen Computer benutzte? Sie schaltete ihn ein.

      Er kam wesentlich schneller in Gang, als ihr eigener. Klar – Ricky fuhr computermäßig einen Lincoln. Einen irre schnellen Rechner hatte der Junge.

      Passwort, verlangte ein kleines Fenster auf dem Monitor.

      „O nein!‟ Ohne den Code konnte sie mit Rickys PC nichts anfangen, ohne Code ließ sich keine einzige Datei laden, keine einzige Zeile schreiben.

      „Was für ein Passwort benutzt du, Sohnemann?‟ Sie probierte ein paar aus: Rickys Geburtstag, Henrys Autokennzeichen, den Namen des Comic-Kriegers auf dem Poster an Rickys Zimmertür, den Namen der alten Heimatstadt Sheridan, und ein paar andere. Die Software akzeptierte nichts davon.

      „Natürlich, du hast ein ganz besonderes Passwort, du alter Geheimniskrämer ...‟

      Schon halb resigniert tippte sie ihren eigenen Namen ein – Marion. Und siehe da – das Fenster, das so hartnäckig nach einem Passwort verlangte, verschwand, und die vertraute Bildschirmoberfläche von Microsoft-Windows erschien.

      „Das glaub ich nicht – er benutzt meinen Namen als Passwort!‟ Marion war gerührt. „Er benutzt den Namen seiner Mutter – mein lieber, kleiner Ricky.‟

      Sie schrieb ihre Mail und sandte sie ab. Statt den PC danach wieder herunterzufahren stöberte sie in Rickys Dateien herum. Die Neugier plagte sie. Mal sehen, was er mit unserer Software so treibt ...

      Sie lud eine der vielen Dateien. Direktor, hieß sie. „Unser heimlicher Junior-Architekt.‟ Sie murmelte das so vor sich hin und lächelte dabei. Da hatte man einen Geheimniskrämer als Sohn, wusste kaum, wie er seine Freizeit verbringt, und plötzlich stellte sich heraus, dass er klammheimlich in die Fußstapfen seines Vaters trat. Stolz erfüllte Marion.

      In der Kopfzeile des Monitors erschien der Name der Datei – Direktor. „Seltsamer Name ...‟ Und in großen Buchstaben war mitten im Bildschirm für Sekunden ein kurzer Satz zu lesen: „Ihr wisst nicht wer ich bin ...‟

      Marion erschrak. Der Satz durchfuhr sie wie ein Stromschlag. Noch bevor sie über ihn nachdenken konnte, wurde er von einer Graphik überblendet – von der Fotografie einer Hausfassade. Marion sah eine Jugendstilvilla mit Zierdach und Erker über dem Eingang und Weinlaub rechts und links der Vortreppe.

      Aus schmalen Augen betrachtete sie das Bild. Und je länger sie es betrachtete, desto schneller schlug ihr Herz. Sie kannte das Foto. Nicht nur, weil sie es vor Tagen durchs Schlüsselloch von Rickys Zimmertür gesehen hatte. Das war nur ein flüchtiger Eindruck gewesen, an den sie sich kaum erinnern konnte.

      Nein – sie hatte es schon woanders gesehen. Heute erst.

      Marion starrte die Hausfassade auf dem Monitor solange an, bis der Bildschirmschoner sich einschaltete. Haifische schwebten jetzt auf dem Monitor.

      Sie stand auf und ging zurück ins Wohnzimmer. Auf dem Couchtisch neben der Sektflasche lag die Montagsausgabe der New York Post. Sie hatte sie auf dem Weg vom Büro nach Hause in der U-Bahn gelesen.

      Sie nahm die Zeitung und las die Schlagzeile: „Bombe tötet Schuldirektor vor seinem Haus‟

      Darunter ein Archivfoto mit der Fassade eines denkmalgeschützten Hauses. Eine Jugendstilvilla mit Zierdach und Erker über dem Eingang und Weinlaub rechts und links der Vortreppe.

      „Ricky ... was soll das bedeuten?‟

      Sie blickte noch einmal auf die Schlagzeile. „Weißer Widerstand zur Befreiung von Gottes eigenem Land verbreitet Tod und Terror‟, hieß es da. „Gott, Ricky ...‟ Marion schluckte und ließ die Zeitung sinken. „Du wirst doch nicht unter den Einfluss solcher Leute ...‟

      Der unheimliche Jack stand plötzlich auf ihrer inneren Bühne. „Ich wusste es‟, flüsterte sie. „Ich fand ihn von Anfang an seltsam.‟

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