David Urquhart

Im wilden Balkan


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einem imaginären Eigenwert des Goldes ausgehe, obwohl zur Umsetzung dieses Wertes doch ein bestimmtes, beliebig manipulierbares Maß von außen angelegt werden müsse, fand Einzug in das Kapital, also in die nach wie vor bekannteste Schrift von Karl Marx. Mehr Gemeinsamkeiten lassen sich jedoch beim besten Willen nicht feststellen, denn Urquharts Bestrebungen zielten auf alles andere ab als auf eine grundsätzliche Umwälzung der Gesellschaft.

      Aus dem Osmanischen Reich hatte Urquhart jedoch eine andere Idee mitgebracht, von der auch im hier vorliegenden Band ausführlich die Rede ist: Seine Begeisterung für das türkische Bad. Ein befreundeter Arzt aus Irland nahm diese Idee gerne auf und lieferte die entsprechende medizinische Begründung dafür, dass man auch in England solche Einrichtungen bauen solle. Seit dem Jahr 1854 verfolgte Urquhart diese Idee und suchte erfolgreich Gönner und Investoren, die das nötige Geld zum Bau dieser Anlagen bereitstellen sollten. So wurden ab etwa 1860 in London und verschiedenen anderen englischen Städten eine Vielzahl von türkischen Hamams errichtet, von denen einige auch heute noch in Betrieb sind. Unter den hygienischen Bedingungen des 19. Jahrhunderts stellten solche Einrichtungen mit Sicherheit einen großen Fortschritt dar, und wenn Urquhart in seinem Reisebericht auf den ausgeprägten Sinn für Sauberkeit bei den Türken verweist und dem die triste Realität insbesondere in London gegenüberstellt, weist er ganz dezidiert auf das durch nichts zu überbietende Gefühl hin, das sich nach dem Besuch des Hamams einstelle, wenn man wirklich sauber und entspannt ist – ein Gefühl, das der Durchschnittseuropäer nicht kenne und das er nur wird erleben können, wenn er vom Orient zu lernen bereit sei. Dieser Überzeugung gibt er 1856 noch einmal Ausdruck, indem er aus dem 1848 veröffentlichten Bericht über seine oben bereits erwähnte Reise durch Spanien – bei dem es sich in größeren Teilen auch um eine politische Abrechnung mit Russland handelt – eine längeres Kapitel über das türkische Bad neu publiziert. Urquharts Frau, die 20 Jahre jüngere Harriet Angelina Fortescue, die er im Jahr 1854 geheiratet und mit der er zwei Töchter sowie den im Alter von 13 Monaten verstorbenen Sohn William hatte, unterstützte ihren Mann übrigens nicht nur bei seinen politischen Bestrebungen, sondern beteiligte sich auch an dessen Bemühungen um den Bau und den Erhalt der Bäder.

      Leider jedoch wuchsen sich Urquharts Aktivitäten selbst in dieser Sache zur Manie aus, und so entstand eine Anekdote, die man sich in den Straßen von London erzählte und die sogar Karl Marx in einem Brief an Friedrich Engels aufgriff: Der Schotte sei so verrückt, dass er seinen kleinen Sohn in ein türkisches Bad mitgenommen habe – was dieser natürlich nicht überlebte. Dieser Vorfall hatte tatsächlich stattgefunden, und nur mit großer Mühe und juristischem Beistand konnte das Ehepaar Urquhart daraufhin eine Anklage wegen Mordes verhindern, sodass es in der Sache bei kriminalistischen Voruntersuchungen blieb. Marx wollte mit dieser Geschichte nur Urquharts Charakter beschreiben, und in Wahrheit dürfte es so gewesen sein, dass jener oder sein Arzt in einer Schwitzkur die letzte Möglichkeit dazu sahen, etwas für den unter einer schweren Infektionskrankheit leidenden kleinen William zu tun. Gleichwohl sind Bau und Förderung der türkischen Bäder in England bis heute einer jener Punkte, den man allgemein mit dem Namen David Urquhart verbindet.

      Nach dem Tod des Sohnes sowie der Erfahrung, dass seine russophobischen Aktivitäten wenigstens zu seinen Lebzeiten kaum Resonanz zeigen sollten, zog sich Urquhart mehr und mehr von der gesellschaftlichen Bühne zurück und konzentrierte sich auf die Veröffentlichung seiner Zeitschrift sowie weiterer Bücher, von denen hier nur einige genannt werden können. So erschien etwa im Jahr 1860 ein als Reisetagebuch ausgegebenes Werk über den Libanon und Syrien, im Jahr 1868 eine Abhandlung über den Krieg in Abessinien oder 1869 ein französisches Werk über die angebliche Nähe zwischen dem Islam und dem Protestantismus, worüber er sich auch in dem hier vorliegenden Band äußerte. Daneben wurden natürlich auch viele seiner Reden veröffentlicht, die er immer wieder vor seinen Freunden und Parteigängern hielt.

      Ab der Mitte der 60er-Jahre des 19. Jahrhunderts bereitete Urquhart seine Gesundheit immer größere Schwierigkeiten, weswegen er England verließ und die meiste Zeit in Frankreich oder auch in Italien verbrachte. Die internationalen Beziehungen und das zwischenstaatliche Recht standen während dieser Zeit im Mittelpunkt seiner Bemühungen. Urquhart verstarb am 16. Mai 1877 während einer Reise in Neapel. Seine Frau, die auch selbst unter dem Pseudonym Caritas in der Diplomatic Review geschrieben hatte, sollte sich noch Zeit ihres Lebens um das Werk ihres Mannes bekümmern. Sicherlich hat er durch sein Wesen und sein Verhalten seine Mitmenschen polarisiert, und über die Jahre hinweg wurde seine Anhängerschaft immer kleiner. Dennoch muss er eine charismatische Persönlichkeit gewesen sein, der es immer wieder gelang, andere in ihren Bann zu ziehen. In besonderer Weise galt dies natürlich für seine Parteigänger, die ihrem David Bey, wie ihn seine engeren Freunde zu nennen pflegten, wie einen Helden verehrten. In gleicher Weise hing seine Familie an ihm, und von seinen beiden Töchtern wird gesagt, dass sie ihren Vater richtiggehend verehrten und ihn ganz nah an Jesus Christus setzten. Letzteres mag vielleicht wieder in den Bereich der Anekdoten gehören, die über David Urquhart im Umlauf waren, aber es mag um so mehr verdeutlichen, dass er trotz seines Starrsinns, seines bisweilen sehr schroffen Umgangs mit seinen Mitmenschen, seiner übertriebenen Russophobie und seiner bisweilen schrulligen Türkenfreundschaft doch ein besonderer Mensch gewesen ist, von dem man nicht nur in seiner eigenen Zeit Kenntnis nahm.

      Hier wird nun der zweite Teil seines Reisetagebuchs vorgelegt, das im englischen Original den Titel The Spirit of the East, also Der Geist des Orients trug. Nach dem Ende der langjährigen Kämpfe um die griechische Unabhängigkeit und vor allem auch nach dem für das Osmanische Reich so ungünstigen Ausgang des Russisch-Türkischen Kriegs von 1828–1829, bei dem der aus Niederschlesien stammende General Hans-Karl von Diebitsch das russische Heer sozusagen bis vor die Tore Konstantinopels geführt hatte, sollte die Region allmählich zur Ruhe kommen. Noch waren die endgültigen Grenzen des neuen Staates nicht gezogen, und – wie oben bereits angedeutet – auch die Fragen der Regierungsform Griechenlands sowie die Entscheidung, wer gegebenenfalls die Herrschaft übernehmen sollte, waren noch nicht gelöst. Urquhart befand sich im Jahr 1829 schon auf der Rückreise nach London, als er vom britischen Gesandten in Konstantinopel eine Depesche des Inhalts erhielt, er solle nach Mittel- und Nordgriechenland gehen, Gebiete, die zum größten Teil beim Osmanischen Reich verbleiben sollten, da in Epiros und Albanien allem Anschein nach neuerliche Aufstände drohten. Er sollte nun die Lage erkunden und möglicherweise drohende Gefahren nach London melden. Der erste Teil dieser Reise führte Urquhart von Nafplion aus, der ersten Hauptstadt des neuen griechischen Staates, an Mykene vorbei und am Golf von Korinth entlang bis nach Patras. Dort setzte er auf das mittelgriechische Festland über und besuchte eine Reihe von Kampfplätzen des Unabhängigkeitskrieges. Von Preveza am Ionischen Meer aus brachte ihn sein Weg in das moderne Ioannina, von wo aus er im Pindos-Gebirge mit zwei Anführern der bevorstehenden albanischen Rebellion in Kontakt trat, die danach wohl aufgrund seiner Informationen vom osmanischen Heer überrannt werden konnten. Dann überquerte er das schwer zugängliche Gebirge über die Via Egnatía, jene alte Militärstraße aus römischer Zeit, besuchte die berühmten Meteora-Klöster und bestieg den Berg Olymp, bevor er das neue Griechenland verließ und in das osmanische Territorium überwechselte.1 Nach einigen weiteren Abenteuern in Thessalien, also im heutigen Mittelgriechenland, war Thessaloniki sein nächstes Ziel, wo er sich als Gast des osmanischen Statthalters aufhielt. Dort nun schloss sich Urquhart einer Gruppe von Soldaten an, um die näheren Umstände eines möglichen Piratenüberfalls zu klären, der sich im Bereich der Halbinsel Chalkidike zugetragen haben sollte und bei dem einem Gerücht zufolge auch ein englischer Offizier als Geisel genommen worden wäre. Seinerzeit waren solche Ereignisse durchaus an der Tagesordnung, weswegen die osmanische Verwaltung ein reges Interesse daran haben musste, diesen Berichten nachzugehen. Urquhart nutzte die Gelegenheit, um neue Kontakte zu knüpfen, wobei er – wie schon im ersten Teil der Reise – in erster Linie Verbindungen zur einheimischen griechischsprachigen Bevölkerung und deren Repräsentanten suchte, während er die neuen türkischen Verwaltungsbeamten eher mied.

      Neben antiken Überresten auf der Chalkidike, die er auch jeweils kurz beschreibt und beispielsweise eine griechische Inschrift aus hellenistischer Zeit wiedergibt, war für ihn der Berg Athos das wichtigste Ziel dieses längeren Ausflugs, der für ihn durchaus hätte tödlich enden können. Denn kurz bevor er den Heiligen Berg betrat, geriet Urquhart in die Gewalt von Räubern, die ihm als Briten alles