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Frankfurter Wegsehenswürdigkeiten


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gibt es manche, die betreten die eigentliche Bibliothek, die inneren Bereiche, gar nicht, das brauchen sie auch nicht. Einer zum Beispiel – ein Herr, der sommers wie winters einen graugelben Mantel trägt, der so aussieht, wie man sich einen Kamelhaarmantel vorstellt –, sucht täglich die Toilette im Untergeschoß zum Füßewaschen auf. Er scheint dabei von einer ganz eigenen, rätselhaften Heiterkeit erfüllt und läßt sich Zeit. Ein anderer picknickt gern an einem der Tische bei den Schließfächern. Käse, Schinken, Schnittbrot, Honig, Apfelsaft, einen violetten Joghurt in einem transparenten Gefäß, ja sogar ein Schüsselchen mit Salat holt er hervor und breitet alles umständlich auf dem Tisch aus. Doch so umständlich es wirkt: Daß er einen Fehler macht, ist ausgeschlossen! Denn er hat sich einen genauen Plan zurechtgelegt. – Auch einem Dichter kann man an diesem Ort, bei den Schließfächern, begegnen, einem alten Dichter mit zerzaustem Bart und bitteren Zügen, der auf einem Klemmbrett Verse notiert und gelegentlich zornig die lärmenden Gruppen von Studenten mustert, die sich hier gern zum Lernen verabreden.

      Andere zieht es in die Lesesäle, etwa einen älteren Herrn, den man im Wortsinn einen Studienrat nennen könnte, insofern ihm auf Grund seiner unermüdlichen Studien – eigentlich – der Ehrentitel eines Rats zukäme. Täglich sitzt er da, eine beeindruckende Zahl von Büchern vor sich auf dem Tisch. Ob er in ihnen liest, ist allerdings nicht ganz sicher. Wenn man es recht bedenkt, hat man ihn eigentlich immer nur knapp über sie hinwegschauen sehen, mit dem entspannt-aufmerksamen Gesicht eines Lehrers, der eine Klassenarbeit schreiben läßt. Mag also sein, daß auch im üblichen Sinne „Studienrat“ eine passende Bezeichnung für ihn wäre. Doch läßt er manchmal alles Studienrätliche fallen, schnarcht laut, den Kopf auf den Büchern, und ist nicht zu wecken.

      Tag um Tag im Lesesaal ist auch der Philosoph. Zur Vorbereitung des Arbeitstages geht er mehrmals zwischen Tisch und Regalen hin und her und bringt immer noch einmal zwei Arme voll Bücher. Indes deutet bei ihm alles darauf hin, daß er in den Büchern liest, ja sogar exzerpiert. Einst ist er eine klassische Mischung aus Student und Stadtstreicher gewesen, man sah ihn in Seminaren über Wittgenstein und Heidegger, dezent Grimassen schneidend, angetan mit einem durchgefetteten Wollpullover, der am Rücken bereits eine wachstuchartige Beschaffenheit zu haben schien. Dann, später, muß er sich irgendwie gefangen haben, er trägt nun saubere Kleider, einen weißen, gestutzten Bart und wirkt beinahe unauffälliger als der Studienrat – nur daß er noch immer diesen gehetzten Gang eines Menschen hat, der jederzeit und überall fürchtet, vertrieben zu werden.

      Ach, das Bedürfnis, in der Eingangshalle auf einen dieser Tische, die es dort jetzt gibt, zu springen und zu schreien: „Ihr wißt nichts, überhaupt nichts! Früher …“ Denn hier, wo man später diesen Kiosk eingerichtet, Sitzbänke und Tische aufgestellt hat, stand früher ein Wald von metallenen Karteischränken, der Zettelkatalog. Ach, der Zettelkatalog mit seinen kleinen, ausfahrbaren Ablagen – ein leichter Druck mit den Fingerspitzen, und sie sprangen heraus, welch aparter Mechanismus! Und die Leihscheine … Kennt überhaupt noch jemand das Wort? Man brauchte Geduld, um sie auszufüllen; eine Postkarte schreibt man schneller. Und etwa so, wie ein Kind einen Brief an den Weihnachtsmann schickt, sandte man sie jenem mit der Büchersuche beauftragten Personenkreis im Innern der Bibliothek, dessen Existenz man voraussetzt, andererseits aber auch anzweifelt, da man ihn nie zu Gesicht bekommt – denn mit den Mitarbeitern der Ausleihe kann er ja kaum identisch sein.

      Da stünde man also und schrie, und keiner würde einen beachten, geschweige denn verstehen. Nur vielleicht die Dame an der Ausleihe, die immer schon da war und immer dasein wird, bis zu dem Tag, an dem die Bibliothek endgültig schließt und gesprengt wird, und selbst dann wird sie noch dasein, die Tür hinter dem letzten Besucher ins Schloß drücken und mit in die Luft fliegen. Müßte sie es nicht verstehen? Würde sie, der eine in staatlichen Einrichtungen selten anzutreffende Milde eigen ist, begütigende Worte finden? Oder hat gerade sie das Alte längst vergessen? Gerade weil sie schon wieder eine endlose Reihe von Tagen Gelegenheit hatte, aus der immer gleichen Perspektive in die Eingangshalle hinauszuschauen, und sich ihr das Neue bereits eingeprägt hat wie etwas ewig Gültiges?

      In den Lesesälen, wo der Studienrat und der Philosoph ihre Tage in Selbstvergessenheit zubringen, zeigen elektronische Tafeln Uhrzeit, Datum, Wochentag, sogar das Jahr, als wollten sie den Besucher daran gemahnen, daß es ein Leben, eine Wirklichkeit außerhalb der Bibliothek gibt und daß seines Bleibens hier nicht ist. Allerdings sind die Anzeigetafeln mittlerweile größtenteils defekt, halb ausgefallen oder halb mit braunem Papier überklebt, und so scheint es auch nur noch halb wahr zu sein, daß ihre verschwommenen grünen Ziffern und Buchstaben an eine andere, ferne Realität erinnern sollen, und nur mehr halb wahr, daß es dieses Leben dort draußen überhaupt gibt.

      Doch Tagesgäste bleiben letztlich alle, da ist nichts zu machen. Die walzenförmigen kleinen Lautsprecher überall, auf den Bibliotheksnutzer gerichtet wie Kanonen, sind das sichtbarste und bedrohlichste Zeichen dafür. Denn am Ende eines jeden Tages senden sie eine Folge schrecklicher Pfeiftöne aus, und jeder weiß nun, was es geschlagen hat, einer verbalen Erklärung bedarf es nicht, allein diese spitzen Töne treiben die Stammgäste mit ihren Bücherbergen, Butterbroten, zerschlissenen Taschen und Kamelhaarmänteln hinaus, sanft unterstützt von Bibliotheksangestellten, die sich – in einer Haltung gefaßter Ungeduld – an zentralen Punkten der Bibliothek in Stellung bringen, wobei ihnen aber – ebensowenig wie den Lautsprechern – niemals auch nur ein einziges Wort entweicht. „Doch uns ist gegeben, / Auf keiner Stätte zu ruhn“, rezitiert einer Hölderlin, während er vom Strom der Hinausstürzenden fortgerissen, durch die Drehtür gewirbelt und auf die Straße geschleudert wird.

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      Kaisersack

      oder:

      Wo die Ungastlichkeit dieser

      Stadt ihren Anfang nimmt

       Von Volker Breidecker

      Wenn Bahnhöfe das sind, was in vormodernen Zeiten Stadttore waren, so hat Frankfurt mit seinem Hauptbahnhof, dem ein Schicksal à la Stuttgart 21 zum Glück erspart geblieben ist, eins der europaweit schönsten Stadttore. Und wenn die Bahnhofsfassade nicht gerade wieder als Werbeträger verpachtet ist, sieht das hundertsechsundzwanzig Jahre alte Gebäude noch immer so aus, wie Max Beckmann im Jahr 1942 aus der Ferne des Exils diesen melancholischen Ort der Ankünfte und der Abreisen aus der Erinnerung gemalt hat. Nur diesseits des ausladenden Vorplatzes, nämlich dort, wo auf dem im Städel hängenden Bild eine schwarze Katze über einem Paradiesgärtlein thront, da ist im wörtlichen Sinne der heute gültigen Ortsbezeichnung bereits das Ende der Vorstellung eines gastfreundlichen Empfangs erreicht, den diese Stadt ihren Ankömmlingen und Besuchern bereiten würde. Schlimmer kann man einen öffentlichen Platz und den Raum eines auf ihn zulaufenden Boulevards – den einzigen, den Frankfurt besitzt – gar nicht abwerten, als ihn Kaisersack zu nennen. Und städtebaulich wird dieser Ort seit Jahren und Jahrzehnten so behandelt, als läge hier noch immer jenes einstige Galgenfeld, auf dem einzig sich auch ein Akt – wie Marcel Proust einmal schrieb – von solch „furchtbarer Feierlichkeit vollziehen kann wie eine Abreise mit der Eisenbahn oder eine Kreuzerhöhung“. Oder eine Ankunft in der Stadt Frankfurt am Main.

      Diese weithin – manchmal auch in einem durchaus wohltuenden Sinne – unromantischste aller deutschen Städte bekommt zwar demnächst (neben einer neuerrichteten Disneyworld-Altstadt der Marke Rothenburg ob der Tauber) ihr Deutsches Romantikmuseum, doch wurde auf der nämlichen Magistratssitzung, die den Ausstieg der Stadt aus der Finanzierung des Museumsprojekts beschlossen hatte – von denselben Stadtvätern später bußfertig wieder zurückgenommen –, auch der vorgesehene Etat für den seit langem geplanten Umbau des Bahnhofsvorplatzes gestrichen und die Wiederherstellung eines menschenwürdigen Übergangs von und zur Magistrale der Kaiserstraße auf den Sankt Nimmerleinstag verschoben. Damit hatte sich die Stadt auch aus der Affäre eines nicht endenden Streits zwischen ihr und der Deutschen Bahn darüber gezogen, wo das bahneigene Gebiet eigentlich endet und wo der städtische Grund beginnt. Frankfurts notorisch schlechter Ruf unter den rund 450.000 Reisenden, die