Genau. Und so fügt sich der Roßmarkt, die verschenkte Mitte der Stadt, nahtlos in eine endlose Reihe architektonischer Innenstadtgrausamkeiten ein – weshalb sich der gar beliebte Vergleich Frankfurts mit New York („Mainhattan“) abermals strengstens verbietet. In New York wäre dieser Platz grün.
Vor dem Gesetz
Von Stefan Gärtner
An einer Haltestelle der Frankfurter Straßenbahnlinie 11 steht ein Mann vom Lande und wartet auf Eintritt. Die elektrische Ankunftsauskunft sagt, daß ihm eine Straßenbahn der Linie 11 den Eintritt jetzt eigentlich gewähren müsse, und der Mann überlegt und fragt einen potentiell Mitreisenden und hoffentlich Einheimischen, ob er, der Mann, bald werde eintreten dürfen. „Es is’ möchlich“, sagt der Einheimische, „jetzt awwer net.“
Der Mann besieht sich die elektrische Ankunftsauskunft, wonach die Tür einer Bahn der Tramlinie 11 längst offenstehen müßte. Als der Einheimische das merkt, lacht er und sagt: „Un’ wenn de’s noch so orsch eilich hawwe dust, sie kimmt nach dem ihr eichene’ Gesetz. Merk der des: Sie is’ mächtich. Un’ verlaß dich bloß net uff die elektrisch’ Aakunftsauskunft. Schon den Aablick von de’ dritte’ falsche’ Auskunft kann net emal ich mehr ertraache’.“
Solche Schwierigkeiten hat der Mann vom Lande nicht erwartet; die öffentlichen Verkehrsmittel sollen doch jedem und immer zugänglich sein, denkt er, aber als er jetzt den Einheimischen in seiner Joggingkluft genauer ansieht, seine rote Trinkhallennase, den langen, dünnen, schwarzen tatarischen Bart, entschließt er sich, doch lieber zu warten, bis ein Eintritt möglich sein wird.
Der Einheimische gibt ihm eine Zigarette und läßt ihn sich im Wartehäuschen niedersetzen. Dort sitzt er Tage und Jahre. Immer wieder steht er auf, um in eine Bahn der Linie 11 zu gelangen, aber es kommt keine, und er ermüdet den Einheimischen durch seine Nachfragen. Der Einheimische stellt öfters kleine Verhöre mit ihm an, fragt ihn über seine Heimat aus und nach vielem andern, es sind aufdringliche Fragen, wie sie dem Apfelwein und Binding-Bier ergebene Herren stellen, und zum Schlusse sagt er ihm immer wieder, daß die Bahn sicher bald kommen werde.
Während der vielen Jahre beobachtet der Mann die elektrische Auskunftsanzeige fast ununterbrochen. Er verflucht den unglücklichen Zufall, der ihn zur Nutzung dieser Straßenbahn bestimmt hat, in den ersten Jahren rücksichtslos und laut, später, als er alt wird, brummt er nur noch vor sich hin. Schließlich wird sein Augenlicht schwach, und er weiß nicht, ob es um ihn herum wirklich dunkler wird oder ob ihn nur seine Augen täuschen.
Da entschließt er sich, seinen Weg zu Fuß anzutreten, solange er noch etwas sieht. Kaum kann er seinen erstarrten Körper noch aufrichten. Wenige hundert Meter ist er gekommen, als eine Straßenbahn der Linie 11 an ihm vorbeirumpelt, und als er sich zum Wartehäuschen umdreht, brüllt ihm der Einheimische hinterher: „Die Bahn da is’ nur für dich bestimmt gewese’. Ei, warum haste dann net gewart’?“
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