mehr in Tihany? Träumte er, oder narrte ihn ein Spuk?
Er schritt die gesamte Front des alten Schlosses ab. Aber niemand war zu sehen, niemand gab Antwort auf seine Rufe. Das Schloss schien von allen Menschen verlassen. Auch die Seiteneingänge und das Gartenportal waren fest verschlossen.
Graf Sandor setzte sich erschöpft auf eine der weißen Marmorbänke, die den Parkweg zierten. Sein Auge glitt über den hinteren Teil des Parks, der genauso ungepflegt war wie die vordere Seite.
Warum hatte seine Stiefmutter ihn nicht darauf vorbereitet, dass Schloss Tihany offensichtlich unbewohnt war? Sie wusste es doch! Aber warum das alles? Das Schloss musste doch saubergehalten werden. Oder hatte sie das Personal beurlaubt, solange sie in ihrem Stadtpalais wohnte? Ja, so musste es sein.
Er beruhigte sich wieder etwas, aber dass seine Stiefmutter ihn hierherfahren ließ, ohne ihn einzuweihen, war unverantwortlich. War sie so in ihren Schmerz um den Verlust des Gatten verstrickt, dass sie das vergessen hatte?
Was sollte er tun? Zurückfahren? O nein, nun war er einmal hier und wollte die Dinge klären. Irgendjemand musste einen Schlüssel zum Schloss haben. Auch das hätte die Gräfin ihm sagen müssen.
Zu seiner Erleichterung fiel ihm der Gutsbetrieb ein, der zum Schloss gehörte und zu dem ein Fahrweg von etwa zweieinhalb Kilometern führte. Hoffentlich war das Gut wenigstens bewohnt.
Seufzend erhob er sich und machte sich auf den Weg, der durch ein kleines Wäldchen führte, das kurz vor dem Wohngebäude des Gutes endete.
Schon von Weitem hatte er das Wiehern der Pferde und das Gegacker des Federviehs gehört, das vom Rattern der Traktoren auf den Feldern mehrfach übertönt wurde. Gott sei Dank, hier war noch Leben, hier wurde offenbar genauso gearbeitet wie früher.
Die Tür zum Wohnhaus von Gutsverwalter Lindemann stand offen. Das Haus war frisch gestrichen, Blumenkästen hingen an den Fenstern.
Zögernd betrat Graf Sandor die matt erhellte Diele des Hauses. Im gleichen Moment kam Frau Lindemann aus der Küche. Sie blieb wie erstarrt stehen, als sie den Fremden erblickte, und dann schrie sie auf:
»Mein Gott, Herr Graf! Sind Sie es wirklich?« Sie rannte ins Wohnzimmer und rief: »Gustav, komm schnell! Der Herr Graf ist da! Mein Gott, nein, so etwas!«
Dann stürzte sie wieder auf Graf Sandor zu und griff nach seinen Händen.
»Herr Graf«, stammelte sie, während Tränen über ihr Gesicht rannen, »dass Sie wieder da sind! Nein, das ist zu viel für mich. Ich muss einfach weinen. Verzeihen Sie mir.«
Sie trocknete ihre Tränen an der Küchenschürze und sah verlegen weg. Inzwischen war auch ihr Mann herausgekommen. Er stand ebenso verdattert da und starrte den Grafen an. Er war genauso gerührt wie seine Frau, versuchte aber, es zu verbergen, was ihm nur sehr schlecht gelang. Er bat den Grafen ins Wohnzimmer und bot ihm in einem Sessel Platz an.
»Warum haben Sie mir nicht geschrieben, Herr Graf? Ich hätte Sie abgeholt. Waren Sie etwa zuerst im Schloss?«
Entsetzt sah er den Grafen an.
»Ja, natürlich«, murmelte Graf Sandor. »Würden Sie mir bitte eine Erklärung geben, Herr Lindemann?«
»Das muss ich ja wohl, Herr Graf. Zuerst aber ruhen Sie sich mal etwas aus. Meine Frau wird Ihnen eine Tasse Kaffee machen. Kommen Sie direkt von Kanada, Herr Graf?«
»Nein, ich war im Palais meiner Stiefmutter. Sie können sich denken, dass mich das alles sehr befremdet hat. Ist denn kein Mensch in Tihany?«
Herr Lindemann senkte den Blick. Das Eintreten seiner Frau mit einem Tablett, auf dem eine Kanne Kaffee und frischer Kuchen standen, enthob ihn zunächst einer Antwort.
»So, Herr Graf«, sagte er, »trinken Sie. Sind Sie denn den ganzen Weg von Neuburg hierher zu Fuß gegangen? Ich hätte doch den Wagen geschickt. Aber ich dachte, Sie kämen erst in vierzehn Tagen zur Beisetzung der Urne Ihres Herrn Vaters. Ich wollte bis dahin im Park und im Schloss ein wenig Ordnung machen. Den Schlüssel habe ich ja noch. Tut mir schrecklich leid, Herr Graf. Das muss wirklich eine böse Überraschung für Sie gewesen sein. Ich hätte Sie gern langsam darauf vorbereitet, dass Ihr Herr Vater mit seiner jungen Gattin seit einem Jahr nicht mehr auf Schloss Tihany gelebt hat.«
»Warum?«, fragte Graf Sandor außer sich.
Herr Lindemann zuckte mit den Achseln.
»Ich habe mir meine eigenen Gedanken darüber gemacht. Ob sie stimmen, weiß ich nicht. Ich dachte, die Gräfin hätte Ihnen den Grund dafür genannt.«
»Nein«, erwiderte Graf Sandor hart. »Sie hat mich völlig im Unklaren darüber gelassen. Ich möchte ins Schloss. Bitte, geben Sie mir die Schlüssel!«
»Ich werde Sie begleiten, Herr Graf. Während der Fahrt werde ich Ihnen dann meine Ansicht über den Wegzug Ihres Herrn Vaters darlegen. Meine Frau hat immer noch Angst, dass die Gräfin uns schaden könnte. Aber ich weiß, dass Sie jetzt allein über Tihany zu bestimmen haben. Nicht wahr, so ist es doch?«
»Ja, das ist richtig, aber ich weiß gar nicht, ob es mich noch glücklich macht. Gehen wir! Ich werde erst ruhiger sein, wenn ich in Tihany bin. Läuft der Gutsbetrieb wie sonst, Herr Lindemann?«
»Na, so einigermaßen. Ich gebe mir wahrlich alle Mühe, möglichst viel herauszuschlagen. Ihr Herr Vater war zwar nie zufrieden mit den Erträgen, aber wenn nichts hineingesteckt wird, kann man auch nichts herausholen. Sie können sich in den nächsten Tagen von allem überzeugen, Herr Graf. Ich habe mit den wenigen Landarbeitern, die hiergeblieben sind, so viel Ackerland bestellt wie nur möglich war.«
»Wenige Leute? Wo sind die anderen geblieben?«
»Alle abgewandert, Herr Graf. Aber nur weil Ihr Herr Vater die Leute zu schlecht bezahlt hat. Es tut mir leid, über einen Toten so zu sprechen, aber Tatsachen kann man nicht verschweigen.«
Graf Sandor war blass geworden. Er erhob sich.
»Alles, was ich von Ihnen höre, versetzt mich in immer größeres Erstaunen, Herr Lindemann«, murmelte er.
In einem alten klapprigen Auto fuhr der Gutsverwalter den jungen Grafen zum Schloss.
»Herr Graf«, begann Gustav Lindemann, »ich will Sie nicht gegen Ihre Frau Stiefmutter aufhetzen, das liegt mir fern, aber ich mache Sie schon jetzt darauf aufmerksam, dass eine Menge wertvoller Gegenstände vom Schloss in das neue Stadtpalais gewandert ist. Seit einem Jahr war die Gräfin nicht mehr hier, und Ihr Herr Vater kam nur, um die Gelder für die Ernteerträge abzuholen.«
Graf Sandor lehnte sich etwas zurück. Um seine Mundwinkel zuckte es.
»Sagen Sie mir alles, Lindemann, ich bin auf das Schlimmste gefasst.«
»Die Gräfin wird sich an uns rächen, wenn ich sie so vor Ihnen bloßstelle, Herr Graf. Ich und meine Frau haben nie Kontakt zu ihr gefunden. Das heißt, sie hat auch keinen mit uns gesucht. Sie war hier immer eine Fremde, und das hat sie auch gefühlt. Schon in den ersten Jahren der Ehe mit Ihrem Herrn Vater war sie ständig auf Reisen. Nie hat sie sich hier wohlgefühlt. Und ich glaube, sie hat auch von Anfang an darauf bestanden, die Wintermonate in der Stadt zu verbringen. Und als sie im Lauf der Jahre merkte, dass sie keine Kinder bekommen würde und das Schloss daher an Sie fallen würde, hat sie nicht eher geruht, bis Ihr Vater ihr ein neues hübsches Schloss kaufte, in dem sie allein die Herrin war. Bevor sie Tihany für immer verließ, musste noch allerlei mitgehen. Sie werden dagegen nichts unternehmen können, Herr Graf. Diese Frau hat genau gewusst, was sie wollte. Und wenn sie ein Kind bekommen hätte, wäre auch Tihany für Sie unerreichbar geworden.«
»Warum haben Sie mir das nicht einmal geschrieben, Lindemann? Vielleicht wäre ich dann doch einmal gekommen und hätte mit meinem Vater gesprochen.«
»Solange Ihr Vater hier war, konnte ich nichts tun, Herr Graf. Auch Sie hätten nichts erreicht, denn Ihr Vater war seiner zweiten Frau völlig hörig. Er hatte sich unter diesem Einfluss so verändert, dass man nicht mehr vernünftig mit ihm reden konnte. Er lebte ständig in der Angst, diese Frau