richten lassen und fragte ihn, ob er noch besondere Wünsche habe. Nein, er hatte keine. Er war dankbar und froh, dass ihn Menschen umgaben, die er aus seiner Jugendzeit kannte und schätzte.
»Was macht Ihre Tochter?«, fragte er. »Damals war sie elf Jahre, als ich wegging. Jetzt wird sie eine junge Dame sein.«
Die Augen der beiden Lindemanns leuchteten auf.
»Ja, Margret ist unser ganzer Stolz. Sie will Lehrerin werden und besucht die Pädagogische Hochschule. Sie werden sie kaum wiedererkennen. Sie ist sehr hübsch geworden, Herr Graf.«
Frau Lindemann ging ins Nebenzimmer und holte ein eingerahmtes Bild.
»Das ist sie«, sagte sie und reichte dem jungen Grafen die Fotografie.
Er blickte in ein hübsches, lachendes Mädchengesicht mit hellen Augen.
»Sie ist wirklich reizend«, bemerkte er, als er das Bild zurückreichte. »Da können Sie aber stolz sein, eine so nette Tochter zu haben. Sie wird doch sicher einmal nach Hause kommen in den Ferien, nicht wahr?«
»Natürlich, und sie wird sehr überrascht sein, Sie wiederzusehen, Herr Graf. Wir haben ihr gestern den Tod Ihres Vaters mitgeteilt und angedeutet, dass Sie bestimmt zum Begräbnis kommen würden.«
Graf Sandor ging früh zu Bett. Die Lindemanns hatten Verständnis dafür, dass er allein sein wollte. Er war sehr müde, und er schlief sofort ein.
Auch die nächsten Tage blieb er im Gutshaus, bis im Schloss wenigstens eine Reihe von Räumen bewohnbar gemacht worden waren.
Herr Lindemann fuhr mit ihm über die Felder und Wiesen, besichtigte mit ihm die Viehherden und die Obstplantagen. Nachmittags saßen sie über den Büchern, damit der Graf einen umfassenden Überblick über Ein- und Ausgaben erhielt.
Zwei Tage später siedelte er in das Schloss seiner Väter über, aber die Leere des riesigen Bauwerks legte sich ihm wie ein Alb auf die Brust.
Vorerst sollte er die Mahlzeiten noch im Gutshaus einnehmen, bis sich eine Köchin und ein Hausmädchen für ihn gefunden hatten und auch ein Gärtner engagiert war, der den Park einigermaßen in Ordnung bringen sollte.
Die Beisetzung der Urne des Grafen Stefan von Tihany fand ohne die Anwesenheit seiner Witwe, Gräfin Coletta, statt. Sie ließ durch einen Boten dem Grafen Sandor einen Brief überreichen, in dem sie ihm in betrübten Worten mitteilte, dass sie erkrankt sei und daher leider nicht an dieser Feier teilnehmen könne. In Gedanken sei sie jedoch bei dem Toten, der nun in einem Erbbegräbnis die letzte Ruhe fände.
Der Schmerz um den Verstorbenen habe ihre Gesundheit doch stark angegriffen, sodass sie dringend der Ruhe bedürfe. Die vielen Beileidsbesuche hätten an ihren Nerven gezerrt, und daher werde es wohl leider noch etwas dauern, bis sie sich wiedersehen könnten. Sie hoffe, dass er sich inzwischen in Tihany eingelebt habe!
Welch ein Hohn, dachte Graf Sandor zähneknirschend. Er glaubte ihr kein Wort, sondern war davon überzeugt, dass sie nur aus Angst vor ihm und seinen berechtigten Vorwürfen nicht gekommen war.
So stand er allein als Hinterbliebener vor der Gruft. Der Pfarrer von Neuburg hielt eine lange Rede, und die wenigen Angestellten und Arbeiter des Gutes standen stumm dabei.
Von diesem Tag an versuchte Graf Sandor, das angetretene Erbe zu verwalten, so gut es ging.
Auf eine Zeitungsnotiz hatte sich lediglich ein älteres Ehepaar gemeldet, das eine Stelle im Schloss annehmen wollte. Der Mann sollte den Park in Ordnung bringen, und die Frau erbot sich, für den Grafen zu kochen und die bewohnten Räume sauberzuhalten. Eine dritte Hilfe war vorerst nicht zu finden, denn Graf Sandor konnte keine hohen Löhne zahlen. Er saß oft bis in die späte Nacht hinein und rechnete. An sich selber dachte er nicht.
Jeden Tag kämpfte er gegen den sehnlichen Wunsch an, einmal nach Jagdschloss Erlau zu fahren. Aber er unterdrückte diesen Wunsch, weil er wusste, dass es für ihn nur eine neue bittere Enttäuschung würde.
Auf den Brief seiner Stiefmutter hatte er nicht geantwortet. Wenn es irgend möglich war, wollte er ihr aus dem Weg gehen.
Aber er hatte nicht mit ihrer Kaltblütigkeit gerechnet. Eines Vormittags fuhr eine elegante Limousine vor. Ihr entstieg Gräfin Coletta, im schwarzen Modellkleid mit apartem Hut.
Sie trug einen Strauß weißer Rosen im Arm und schritt mit betonter Anmut die Freitreppe hinauf, nachdem sie einen kurzen abschätzenden Blick über das Schloss geworfen hatte. Sie stellte fest, dass der Rasen geschnitten war und zwei Blumenkübel zu beiden Seiten der Freitreppe standen.
Da kein Personal zu erwarten war, das sie empfing, betrat sie ungeniert die Halle.
Sie sah eine ältere Frau auf der Treppe Staub wischen und fragte, wo Graf Sandor sei.
»Der Herr Graf ist in seinem Arbeitszimmer«, sagte die Frau. »Wen darf ich ihm melden?«
»Das ist nicht nötig. Ich bin seine Stiefmutter. Außerdem kenne ich mich hier aus. Sind Sie neu engagiert hier?«
»Ja, mein Mann und ich. Wir heißen Braun. Mein Mann pflegt den Garten, und ich mache mich hier nützlich. Wir sind Rentner und wollen durch diese Arbeit unsere kleine Rente etwas aufbessern. Und wohnen tut man ja hier sehr schön.«
»Vernünftig von Ihnen. Der Aufenthalt hier ist für Sie bestimmt die reinste Erholung.«
Die Gräfin stieg die Treppe hinauf, nickte Frau Braun flüchtig zu und ging auf das Arbeitszimmer zu, in dem auch ihr verstorbener Gatte gesessen hatte.
Die Rosen hatte sie noch in der Hand, und ehe sie durch die nur angelehnte Tür eintrat, versuchte sie, ihrem Gesicht den Ausdruck tiefster Trauer zu verleihen.
Graf Sandor saß in Rechnungsbücher vertieft am Schreibtisch. Auch diesem Raum fehlte Verschiedenes, aber er hatte wenigstens noch die wichtigsten Möbelstücke behalten.
Graf Sandor gewahrte seine Stiefmutter erst, als sie bereits eingetreten war.
Er starrte sie sekundenlang wie einen Geist an. Dann sprang er auf, und aus seinen Augen schoss ein Blitz tiefster Verachtung und Empörung.
»Sandor«, hauchte die Gräfin, »ich habe die ganze Zeit gehofft, du würdest mich einmal besuchen. Es wäre noch so viel zu besprechen gewesen. Ich habe mich heute aufgerafft, um an der Gruft Stefans Blumen niederzulegen. Es tat mir so unendlich leid, dass ich nicht bei dir sein konnte, aber mein Arzt hat es mir strengstens untersagt.«
Sie seufzte auf, legte die Blumen auf einen Tisch und kam auf Sandor zu. Sie sah genau, was er von ihrem Besuch hielt, aber sie tat, als ob sie es nicht merkte.
»Wie kommst du zurecht, mein Lieber? Ich wollte dir doch helfen. Und weißt du, in der Aufregung hatte ich ganz vergessen, dir zu sagen, dass …«
Jetzt hatte er genug.
»Dass Jagdschloss Erlau verkauft worden ist, dass die Hälfte der Möbel von Tihany in dein Stadtschloss gewandert ist, und dass Tihany schon seit einem ganzen Jahr leer steht, das wolltest du mir doch sagen, nicht wahr?«, brüllte er außer sich.
»Sandor«, flehte sie und hob beschwörend beide Hände, »wie kannst du mir solche ungerechtfertigten Vorwürfe machen. Ich werde dir alles genau erklären, und du wirst einsehen, dass wir, dein Vater und ich, richtig gehandelt haben.«
»Das werde ich niemals einsehen«, entgegnete er kalt. »Den Verkauf von Erlau kann ich leider nicht rückgängig machen. Aber ich ersuche dich, die Gegenstände zurückzugeben, die aus der Familie meiner Mutter stammen. Diese Dinge haben in deinem Stadtpalais gar nichts verloren. Und dann möchte ich dich bitten, den Besuch bei mir möglichst einzuschränken. Wir haben uns nichts mehr zu sagen.«
»Ich verstehe, du bist gereizt, Sandor.« Sie blieb auffallend ruhig. »Aber um die Finanzen deines Vaters stand es nicht mehr so gut, dass die Erhaltung zweier Schlösser gerechtfertigt gewesen wäre. Erlau ist doch ein alter Kasten.«
»Für dich«, schnitt er ihr scharf das Wort ab, »aber für mich war es das Paradies meiner Kindheit,