Helga Torsten

Fürstenkinder Staffel 1 – Adelsroman


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»Jetzt habe ich auch keine Lust mehr, mit den anderen ins Dorf zu gehen.«

      »Sie werden aber annehmen, das sei verabredet«, gab Sybill ihm zu bedenken. »Das sieht dumm aus. Das mußt du doch einsehen.«

      Er gab ihr schließlich recht, wenn auch schweren Herzens. Wenig später sah sie ihn von ihrem Fenster aus mit den anderen Kommilitonen in Ottokar, den sie wieder repariert hatten, eilig davonfahren.

      Sie atmete unwillkürlich auf. Sie hatte es von jeher geliebt, ihren eigenen Gedanken nachzuhängen und sich nicht stets und ständig anderen Menschen anschließen zu müssen.

      Sie ging langsam vom Fenster weg zu der bequemen Couch hinüber. Aber bevor sie sich hinlegte, überlegte sie es sich anders.

      Ihr Kopfweh würde am besten draußen in der freien Natur vergehen. Sie wollte einen Spaziergang machen, ganz allein über Felder und Wiesen, wie sie früher daheim oft stundenlang spazierengegangen war.

      Sie eilte an den Einbauschrank und nahm eine leichte hellblaue Leinenhose heraus. Dann zog sie eine gleichfarbige Bluse an und schlüpfte in weiche Lederslipper.

      Sie sah in den Spiegel. Die Arbeit in der Sonne hatte ihr gutgetan. Ihre Wangen waren gerötet und leicht gebräunt. Ihre Augen leuchteten unternehmungslustig.

      Sybill lächelte vergnügt vor sich hin. Wenn Claus von diesem Spaziergang wüßte, würde er ganz sicher sofort umkehren. Aber er ahnte nichts davon. Und das war gut so.

      Sie begegnete niemandem. Der große Gutshof war wie leergefegt. Das Gesinde hatte den Nachmittag über frei. Sie überlegte kurz, in welche Richtung sie sich wenden sollte, dann schlug sie den Weg zu den Feldern ein, den sie jeden Morgen gefahren wurden.

      Ein leichter Wind wehte und bewegte die schweren Ähren, so daß es aussah, als sei das ganze Feld ein goldgelbes Meer, durch das sanfte Wellen leise rauschten. Hin und wieder leuchtete ein bunter Farbklecks auf, ein paar Stengel rotglühenden Mohns oder ein paar Kornblumen.

      Von den Koppeln hintern den Feldern klang ein fröhliches Wiehern herüber. Sybills Herz schlug rascher: Pferde! Sie ging unwillkürlich schneller. Dann stand sie vor der Koppel, auf der ein einzelner Hengst weidete.

      Sie hielt den Atem an. Lieber Himmel, was für ein Pferd! Sie streichelte mit den Augen den edlen Schwung des langestreckten Halses, die zierlichen Hufe, die zerbrechlich wirkenden Gelenke.

      Unwillkürlich griff sie in die Hosentasche. Aber natürlich war kein Zucker darin.

      Als der Hengst, der sie aufmerksam betrachtete, ihre Hand in der Hosentasche verschwinden sah, kam er erwartungsvoll näher.

      Sybill hielt ihm die leere Handfläche hin.

      »Mein armer Schatz. Es ist ja nichts darin«, flüsterte sie zärtlich. »Es tut mir so leid, mein Liebling.«

      Als verstünde das schöne Tier ihre Worte und verzeihe ihr, fuhr es vorsichtig mit der rauhen Zunge über ihre Hand und wieherte leise.

      Sybill kraulte ihm sanft die Nüstern. Die klugen braunen Pferdeaugen sahen sie freundlich an.

      Eine unzähmbare Lust, sich auf den Rücken dieses herrlichen Pferdes zu schwingen und mit ihm davonzureiten, überkam sie plötzlich. Wie, wenn sie es tatsächlich täte? Ihr Herz klopfte schnell und ungestüm. Es brauchte ja niemand zu sehen. Ein paar Minuten nur, ein paar kurze, aber selige Minuten.

      Der Hengst drängte sich dicht ans Gatter. Er tänzelte unruhig auf den zierlichen Hufen. Es war, als ahne er ihre Gedanken und sei einer Meinung mit ihr.

      »Was meinst du, soll ich es tun?« flüsterte sie in das Pferdeohr, das sich steil aufrichtete. »Und wenn mich dein Herr erwischt?« Aber der ist ja verreist, beruhigte sie sich selbst. Und der Verwalter? Es gab doch hier sicher einen Verwalter?

      Der Hengst wieherte leise. Er stupste sie vertraulich mit der Nase.

      »Ich tue es«, sagte sie plötzlich laut. »Jawohl, ich tue es! Wenn man mich erwischt, soll man mich hinauswerfen. Das ist auch nicht so furchtbar schlimm. Aber ich habe wieder einmal auf dem Rücken eines Pferdes gesessen. Eines so herrlichen Pferdes, wie du es bist, mein Lieber.«

      Sie kletterte kurzerhand über das niedrige Gatter. Der Hengst kam langsam heran und rieb seinen schönen Kopf an ihrem Arm.

      »Läßt du mich aufsitzen?« bat sie zärtlich und griff in seine Mähne. »So ganz ohne Sattel und Zaumzeug? Oder hast du das nicht gern?«

      Mit einem kühnen Satz saß sie oben. Der Hengst schien zunächst erschrocken. Er stieß ein helles Wiehern aus, aber dann begann er unruhig zu tänzeln und die Ohren anzulegen. Sybill klammerte sich an der Mähne fest und dirigierte ihn mit ihren Schenkeln. Es klappte besser, als sie erwartet hatte. Er setzte zum Sprung an, und gleich darauf schwebte sie über das Gatter und brauste in einem leichten Galopp über Wiesen und Felder davon.

      *

      »Teufel noch einmal – ist das nicht Ödipus?«

      Der Reiter, der auf einem fast schwarzen Araber den Feldweg entlanggeritten kam, kniff die Augen zu einem schmalen Spalt zusammen. Ohne Zweifel, die Koppel da wenige hundert Meter vor ihm war die von Ödipus, einem seiner Reitpferde. Und das Tier, das da eben über das Gatter gesetzt hatte, mußte demzufolge auch Ödipus sein. Aber wer erlaubte es sich, Ödipus ohne seine Erlaubnis zu reiten? Den Burschen würde er sich gleich einmal vornehmen.

      Fürst Hasso von Degencamp nahm die Zügel kürzer und setzte zur Verfolgung an. Aber er mußte sich dranhalten, denn dieser Teufelsbursche da vor ihm war ein guter Reiter, und Ödipus war so leicht nicht einzuholen.

      Der Fürst biß die Zähne aufeinander, daß sie knirschten, und trieb den Rappen zu immer schnellerem Galopp an.

      Jetzt war er so dicht herangekommen, daß er erkennen konnte, daß Ödipus nicht von einem Mann, sondern von einer Frau geritten wurde.

      Und dann sah er noch etwas, was ihn starr vor Staunen machte: Ödipus war ungesattelt. Diese Frau mußte wie der Teufel selbst reiten können.

      Instinktiv fühlte er Bewunderung. Gleichzeitig jedoch keimte der Verdacht in ihm, daß er sich hier um nichts anderes als um einen Diebstahl handeln konnte. Man wollte ihm Ödipus stehlen.

      Ein unbändiger Zorn stieg in ihm auf. Wenn er dieses weibliche Wesen da vor sich erwischte, dann gnade ihm Gott!

      Er schrie dem Rappen ins Ohr: »Schneller, schneller, Gero! Noch viel schneller!« Und der Rappe raste wie eine Windsbraut hinter dem davonstürmenden Ödipus her.

      Plötzlich aber wendete die tollkühne Reiterin ihr Pferd, und Hasso von Degencamp konnte seinen Rappen gerade noch rechtzeitig zur Seite reißen.

      Er zerdrückte einen Fluch zwischen den Zähnen. Was war das nun wieder? Eine neue Finte? Er wendete den Rappen ebenfalls und staunte. Ödipus war aus dem Galopp in langsamen Trapp gefallen, und es würde kaum Mühe machen, ihn jetzt einzuholen.

      Als er den Rappen neben Ödipus parierte, war sein Gesicht zorngerötet. Seine graublauen Augen blitzten böse.

      »Wer sind Sie?« herrschte er Sybill an, die erschrocken zusammenzuckte.

      »Ich…« Sie sah ihn furchtsam an. »Sie denken vermutlich, ich wollte das Pferd stehlen. Aber das wollte ich nicht, ganz bestimmt nicht. Mich überkam nur plötzlich die Lust zum Reiten so übermächtig, daß ich nicht widerstehen konnte.«

      Sie musterte seinen einfach geschnittenen graugrünen Jagdanzug. »Sie sind der Verwalter, ja?«

      Er ging auf ihre Frage nicht ein.

      »So! Die Lust zum Reiten überkam Sie, und da stehlen Sie einfach ein Pferd, das beste und schönste übrigens, das es in der ganzen Gegend gibt, und reiten damit auf und davon. Sie scheinen von Zigeunern abzustammen!« Er lachte grimmig.

      Bei dem Wort Zigeuner fuhr sie zusammen. Glühende Röte überzog ihr feines Gesicht. Ihre großen, schönen Augen funkelten böse.

      »Ich verbitte mir derartige Beleidigungen«, sagte