Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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Adrian. Dann kam ihm ein Gedanke. »Sagen Sie, haben Sie etwas vor? Oder darf ich Sie zu einem frühen Abendessen einladen? Aber nur, wenn Sie mir als Gegenleistung noch mehr erzählen.«

      »Da sage ich bestimmt nicht nein«, antwortete John Tanner lächelnd. »Ich rede sowieso gern über meine Arbeit. Und wenn sich dann noch jemand wirklich dafür interessiert, dann bin ich kaum noch zu bremsen.«

      »Um so besser!« Adrian lachte.

      »Aber ein wenig könnten Sie mir auch erzählen, was Sie so machen. Die Arbeit in einer Notaufnahme stelle ich mir sehr anstrengend vor.«

      »Das ist sie auch, aber für mich ist sie genau das Richtige«, erklärte Adrian. »Es gibt jedenfalls nichts anderes, das ich lieber täte. Und das war schon immer so. Ich gehöre also nicht zu den Menschen, die ständig sagen: ›Ich würde so gern dies oder jenes tun.‹ Ich habe genau den Beruf, den ich haben wollte.«

      »Wie ich«, stellte John nachdenklich fest. »Wissen Sie eigentlich, daß das sehr selten ist?«

      Adrian nickte. Langsam verließen sie die Kirche. »Ich glaube, ich werde in Zukunft gelegentlich hierherkommen und Ihren Fresken ›Guten Tag‹ sagen, Herr Tanner. Ich verstehe gar nicht, daß die Leute nicht Schlange stehen, um sie zu bewundern.«

      »Normalerweise tun sie das«, erwiderte der junge Restaurator bescheiden. »So viel Zulauf wie in den letzten Wochen hat die kleine Kirche lange nicht mehr erlebt. Aber es wird ja schon langsam Abend, da fahren die Leute wieder nach Hause. Tagsüber war hier sehr viel los.«

      »Gut, daß ich jetzt erst gekommen bin«, stellte Adrian zufrieden fest. »Ich hätte Ihre Fresken nicht gern mit vielen anderen geteilt.«

      »Kommen Sie«, sagte John Tanner. »Ich weiß einen wunderbaren Gasthof hier in der Nähe, der wird Ihnen auch gefallen. Und dann erzähle ich Ihnen alles, was Sie wissen wollen.«

      Adrian folgte ihm. Welch großartiger Abschluß für diesen Sonntag, dachte er. Er durfte nicht versäumen, Esther, seiner Zwillingsschwester, von dieser Kirche und John Tanner zu erzählen.

      *

      Mareike Sandberg versuchte mit aller Macht, die aufsteigenden Tränen zu unterdrücken. Sie wußte genau, wie ihr Mann darauf reagieren würde, und das wollte sie vermeiden. Er stand vor ihr, groß und kräftig, und sah ein wenig spöttisch auf sie herunter, wie er es immer tat, wenn sie wieder einmal vergeblich versucht hatte, ein offenes Gespräch mit ihm zu führen. Mareike fühlte, wie ihr Mut sie verließ. Es war aussichtslos, wie jedes Mal. Sie kam nicht einen einzigen Schritt weiter.

      Robert Sandberg war fünfzehn Jahre älter als seine Frau. Dreiundvierzig war er gerade geworden, und er war einer der erfolgreichsten Industriellen des Landes. Ein imposanter Mann von hohem Wuchs und breiter Statur, einem energischen Gesicht mit harten Lippen und kalten blauen Augen. Seine braunen Haare waren bereits von grauen Fäden durchzogen.

      Mareike dagegen war zierlich und blond, eine schöne junge Frau von achtundzwanzig Jahren. Ihre Haare fielen ihr weich und glatt in einem schönen Schwung bis auf die Schultern, das ebenmäßige Gesicht bekam seine pikante Note durch den etwas zu vollen Mund und die kleine Nase. Die Augen waren groß und braun, von dichten dunklen Wimpern gesäumt.

      Vor drei Jahren, als sie Robert Sandberg geheiratet hatte, war er ihr wie ein Märchenprinz erschienen – aber mittlerweile fragte sie sich immer häufiger, ob sie die Begeisterung beider Familien über diese Verbindung nicht einfach mit Liebe verwechselt hatte.

      Aber damals schien alles einfach perfekt zu sein. Auch Mareike kam aus einem reichen Haus, und sie brachte alle Voraussetzungen mit, um die ideale Ehefrau von Robert Sandberg zu werden. Sie war schön und immer elegant angezogen. Nie sah man sie schlampig oder auch nur nachlässig gekleidet. Sie konnte ein großes Haus führen, und sie hatte es direkt nach der Heirat mit ungewöhnlichem Geschmack, aber absolut stilsicher eingerichtet. Sie wußte, wie man mit Personal umging, und sie hatte keine Schwierigkeiten damit, große Summen zu verwalten. Ihre Umgangsformen waren tadellos – und selbst bei Gesellschaften in höchsten Kreisen machte sie nie einen Fehler. Sie war liebenswürdig und charmant, dabei intelligent und gebildet.

      Sie war perfekt als Frau für Robert Sandberg, so hatten es seinerzeit alle gesehen, sie selbst eingeschlossen.

      Aber Robert Sandberg war nicht der richtige Mann für sie. Sie begriff das allmählich, wehrte sich jedoch noch immer gegen diese Erkenntnis. Sie wollte alles richtig machen. Eine Trennung von einem so mächtigen und angesehenen Mann wie Robert aber würde mit Sicherheit nicht nur von ihren Eltern als Schandfleck in der Familienchronik angesehen.

      Aber es ließ sich nicht leugnen, daß sie immer häufiger davon träumte, noch einmal ganz von vorn anzufangen und ein Leben ohne einen Mann zu führen, der ihr ständig diktierte, was sie zu tun hatte. Doch sie verdrängte diese Träume, so gut es eben ging.

      »Warum mußt du mich behandeln wie ein kleines Mädchen?« fragte sie.

      »Ich bin erwachsen, Robert. Und wir sind seit drei Jahren miteinander verheiratet.«

      »Wenn du erwachsen wärst«, antwortete er kalt, »dann würdest du nicht ständig versuchen, mir völlig unsinnige Diskussionen aufzuzwingen, Mareike. Du bist seit drei Jahren meine Frau, wie du eben völlig richtig festgestellt hast, und du hast gewußt, was es bedeutet, mich zu heiraten. Ich brauche eine Frau, die mich unterstützt, die unser Haus so führt, wie es meiner gesellschaftlichen Stellung angemessen ist. Wozu also willst du dein Kunststudium wieder aufnehmen? Du hast für solche Mätzchen keine Zeit und nimmst nur jemand anderen den Studienplatz weg, das weißt du ganz genau!«

      »Aber ich fühle mich so nutzlos!« rief sie. »Und unausgefüllt! Alles, was ich tue, hat mit dir und deiner Stellung zu tun. Für mich selbst tue ich nichts, verstehst du? Du gehst jeden Morgen deinen Geschäften nach, und dann sitze ich hier in diesem Riesenhaus und bespreche mit dem Personal, wen wir zu unserer nächsten Gesellschaft einladen und was es zum Essen geben soll. Oder ich entscheide, welche Farbe die neue Markise über der Südterrasse haben soll. Oder ich kaufe mir ein neues Kleid, obwohl ich bereits hundert im Schrank hängen habe, die höchstens einmal getragen sind.« Ihre Stimme wurde leiser. »Das ist doch kein Leben, Robert!«

      »Andere wären froh, wenn sie so ein Leben hätten«, erwiderte er noch frostiger als zuvor. »Ich möchte wissen, worüber du dich eigentlich beklagst? Ich gebe dir viel Geld, damit du dir alles kaufen kannst, was du willst. Du bist die bestangezogenste Frau der Stadt, alle bewundern dich. Deine Qualitäten als Gastgeberin sind unbestritten. Warum also müssen wir immer und immer wieder diese unsinnige Diskussion führen?«

      »Weil ich unglücklich bin«, flüsterte sie. »Es geht doch nicht um Geld, Robert. Es geht um Gefühle. Um Glück. Verstehst du das nicht?«

      Er warf ihr einen letzten Blick zu, bevor er mit raschen Schritten das Zimmer verließ. »Nein«, sagte er knapp. »Das verstehe ich ganz und gar nicht. Und du solltest dich schämen, so undankbar zu sein. Du lebst wie eine Prinzessin und redest von Unglück! Für wen hältst du dich eigentlich?«

      »Für deine Frau«, antwortete sie leise. Aber das hörte er schon nicht mehr, denn die Tür fiel bereits hinter ihm ins Schloß. Sie schluckte, aber es war zu spät. Nun kamen sie doch noch, die Tränen, die sie die ganze Zeit so mühsam zurückgehalten hatte.

      *

      Esther Berger schloß für einen kurzen Augenblick die Augen. Sie war glücklich, rundherum glücklich. Ein sehr harter Arbeitstag lag hinter ihr. Sie war Kinderärztin an der Charité, und sie war es gerne. Manchmal aber wurde ihr alles zuviel, und so war es heute gewesen.

      Jetzt jedoch war sie auf dem Bauernhof vor den Toren Berlins, auf dem sie ihr Pferd stehen hatte: Luna, eine große braune Stute, die sehr temperamentvoll, aber auch gutmütig war. Sie hatte den Kauf des Pferdes, das sie sich eigentlich gar nicht leisten konnte, in einer Vollmondnacht perfekt gemacht und damals sofort gedacht, daß Luna der richtige Name für die hübsche Stute war.

      Durch Zufall hatte sie dann diesen Bauernhof gefunden, auf dem sie Luna untergebracht hatte – und seitdem war es ihr größtes Glück, nach der Arbeit