Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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wäre kein Mann für dich, glaube ich. Aber was er gesagt hat, hat mich sehr nachdenklich gemacht. Er hat gemeint, daß es ziemlich selten vorkommt, daß jemand seinen Traumberuf ausübt. Die meisten Menschen, glaubt er, hätten lieber einen anderen Beruf als den, den sie ergriffen haben.«

      »Wenn das stimmt, ist es traurig«, sagte Esther. »Stell dir das doch mal vor. Du tust etwas, Tag für Tag und Jahr für Jahr – und in Wirklichkeit wünschst du dich ganz woanders hin. Und das ist dann dein Leben.«

      Adrian nickte. Sie hatten das Kino erreicht, in dem der Film lief, den sie sich ansehen wollten. Esther blieb stehen und sah ihren Bruder an. »Komm, wir gehen lieber in eine Kneipe und reden«, sagte sie. »Ich hab’ gar keine Lust mehr auf Kino.«

      Er lächelte auf sie herunter. Das war wieder einmal typisch Esther. Aber ihr Vorschlag kam ihm nicht ungelegen. Sie hatten so lange schon keinen Abend mehr miteinander verbracht, daß es sicher viel zu erzählen gab.

      »Einverstanden«, sagte er und ließ sie wieder in seiner Armkuhle verschwinden. »Auf in die nächste Kneipe!«

      Es wurde ein sehr langer, sehr weinseliger Abend, und am nächsten Tag mußten sich Dr. Berger und Dr. Winter an ihren Arbeitsplätzen ziemlich viele spöttische Kommentare von ihren Kolleginnen und Kollegen anhören. Sie zielten alle in die gleiche Richtung: daß sie nämlich vielleicht doch das Alter schon hinter sich gelassen hatten, in dem man ungestraft die Nacht zum Tage machen kann.

      *

      Robert Sandberg setzte nach seinem ›Schwächeanfall‹, wie er es spöttisch nannte, sein Leben wie gewohnt fort. Vielleicht trank er ein bißchen weniger, vielleicht versuchte er auch, sich etwas mehr Bewegung zu verschaffen, aber im Grunde blieb alles beim Alten.

      Eines Abends sagte er zu Mareike: »Wir werden ein großes Essen geben, hier ist die Gästeliste.« Er reichte ihr zwei Blätter über den Tisch.

      Sie nahm sie zögernd und überflog sie. »Da ist ja auch nicht ein einziger netter Mensch dabei«, sagte sie leise. »Lauter aufgeblasene Wichtigtuer, die nichts im Kopf haben, als dir zu schmeicheln, weil sie auf große Geschäfte mit dir hoffen.«

      Er sah sie an, und sein ohnehin hartes Gesicht wurde noch härter. »Was kümmert es dich?« fragte er. »Du hast keine andere Aufgabe, als schön auszusehen und charmant zu plaudern. Ist das zuviel verlangt für das Leben, das du in diesem Hause führen kannst? Daß du dich einmal alle vierzehn Tage mit Leuten unterhalten mußt, die dir nicht liegen?«

      Plötzlich konnte sie nicht mehr an sich halten. »Jawohl, das ist zuviel verlangt«, sagte sie mit erhobener Stimme.

      »Beherrsch dich bitte!« wies er sie leise, aber scharf zurecht. »Oder möchtest du, daß das ganze Haus teilhat an unserer kleinen Unterhaltung?«

      »Das ist mir völlig gleichgültig«, gab sie zurück, leiser zwar als zuvor, doch immer noch laut genug, um ihn zusammenzucken zu lassen.

      »Mareike, bitte!« Eine Zornesader schwoll auf seiner Stirn und erinnerte sie gerade noch rechtzeitig daran, daß auch er die Beherrschung verlieren konnte. Ihre Empörung fiel in sich zusammen wie ein Häufchen Asche.

      »Warum können wir nicht einmal Leute einladen, die wir gerne um uns haben möchten?« fragte sie, und nun zitterte ihre Stimme. »Gäste einladen, um einen schönen Abend zu verleben, verstehst du? Nicht, um wieder irgendwelche Geschäfte einzufädeln.«

      »Und wen würdest du gern einladen?« fragte er, und die Bosheit in seiner Stimme war nicht zu überhören.

      Sie antwortete nicht. Robert und sie hatten keine wirklichen Freunde, das wußte sie genauso gut wie er.

      »Merk dir eins, Mareike: Zu uns kommen die Leute nicht, weil sie dich oder mich so furchtbar nett finden. Zu uns kommen sie, weil es wichtig für sie ist. Geht das nicht in deinen Kopf? Es ist doch eigentlich ganz einfach.«

      Sie stand auf und sah ihm direkt in die Augen. »Es mag einfach sein, Robert, aber es ist nicht das, was ich will! Hast du das verstanden? Nein? Dabei ist das doch auch ganz einfach.«

      Noch nie hatte sie es gewagt, so mit ihm zu sprechen, und sie sah die Fassungslosigkeit in seinen Augen. Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und verließ das Zimmer. Weinen würde sie erst, wenn sie allein war, nicht vorher.

      Und dann dachte sie es zum ersten Mal in aller Klarheit: So geht es nicht weiter. Ich will nicht mehr so leben!

      Die letzten Schritte zu ihrem Zimmer rannte sie. Sie verschloß es zweimal und ließ sich dann mit zitternden Knien in einen der gemütlichen Sessel fallen, die sie vor das große Fenster gestellt hatte. Ich will nicht mehr so leben, dachte sie erneut. Und dann kamen wieder einmal die Tränen.

      *

      »Hast du schon das Neueste gehört?« erkundigte sich Dr. Julia Martensen, als sie an diesem Morgen zur gleichen Zeit wie Dr. Adrian Winter die Notaufnahme der Kurfürsten-Klinik in Berlin betrat.

      »Klatsch oder Informationen?« fragte er zurück.

      »Informationen natürlich!« Sie versuchte, ein beleidigtes Gesicht zu machen, aber es gelang ihr nur unzureichend.

      »Die Klinik hat endlich genug Geld, um Ärzte und Pflegepersonal leistungsgerecht zu bezahlen?« vermutete er.

      »Spinner!« Julia warf ihre kurzen braunen Haare mit energischem Schwung nach hinten. »Angeblich kriegen wir einen neuen Verwaltungsdirektor – einen etwas jüngeren diesmal. Er soll Anfang vierzig sein, habe ich gehört.«

      »Wahrscheinlich ist er noch schlimmer als der alte«, murmelte Adrian. »Er hat bestimmt eine von diesen modernen Managerschulen hinter sich und rationalisiert uns alles weg, was wir eigentlich dringend brauchen. Hast du noch mehr solche schlechten Nachrichten?«

      »Sei nicht so pessimistisch,

      Adrian. Vielleicht ist es ja gar keine schlechte Nachricht. Schlimmer, als es war, kann es doch eigentlich kaum werden.«

      »Da hast du auch wieder recht. Aber mir läuft einfach immer ein Schauder über den Rücken, wenn ich das Wort ›Verwaltung‹ nur höre. Für mich ist sie der natürliche Feind der Mediziner.«

      Julia lachte herzlich. »Jetzt übertreibst du aber wirklich. So schlimm ist es nicht.«

      Sie hatten die Notaufnahme erreicht. »Wann soll dieser Mensch denn kommen – oder hast du darüber nichts gehört?«

      »Irgendwann in den nächsten Wochen, mehr weiß ich auch nicht.«

      »Dann wollen wir uns mal überraschen lassen. Und jetzt, Frau Kollegin, an die Arbeit!«

      »Jawohl, Herr Kollege.«

      *

      John Tanner wagte nichts zu sagen. Stumm ritt er neben Mareike Sandberg her, die ihm heute völlig verändert erschien. Sie ritten ab und zu zusammen aus und hatten sich bisher, wenn die Pferde im Schritt gingen, immer angeregt dabei unterhalten. Heute jedoch war Mareikes Gesicht verschlossen, sie schien tief in Gedanken versunken zu sein. Sie waren schon seit über einer Viertelstunde unterwegs, aber in dieser Zeit hatte sie noch kein einziges Wort gesagt.

      Wie gern hätte er sie gefragt, ob sie Kummer habe, aber er wagte es nicht. So vertraut waren sie nicht miteinander. Leider…

      »Lassen Sie sich bitte nicht von meiner trüben Stimmung anstecken«, sagte Mareike in diesem Augenblick, als habe er seine Gedanken laut ausgesprochen. »Mit mir ist heute nicht viel los, Herr Tanner.«

      »Das habe ich schon gemerkt.« Seine Stimme klang vorsichtig, er wollte ihr nicht zu nahe treten.

      »Das kann ich mir vorstellen.« Nun lächelte sie endlich, wenn auch nur kurz. »Aber das geht vorüber.« Leiser fügte sie hinzu: »Ich hoffe es jedenfalls.«

      »Sicher tut es das«, sagte er ruhig. »Ich kenne solche Tage auch, an denen einem alles grau in grau erscheint.«

      Jetzt hatte er ihr Interesse geweckt. »Sie auch?« fragte sie. »Sie sind mir bisher immer so wunderbar ausgeglichen vorgekommen. So,