Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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und im selben Augenblick wußte er, daß nun alles aus war. Dabei fühlte er zu seiner großen Verwunderung keinen Schmerz. Dennoch wußte er, daß alles zerbrochen war. Er würde nicht aufstehen können, und niemand würde ihn hier finden.

      Mareike, dachte er und sah ihr Gesicht mit den schönen braunen Augen und den vollen Lippen vor sich, die er niemals würde küssen dürfen.

      Sie würde es nicht einmal erfahren, daß er verunglückt war, denn nun konnte er sie ja auch nicht anrufen.

      »Mareike«, murmelte er, dann verlor er das Bewußtsein, während einen Kilometer weiter das Pferd seinen rasenden Lauf endlich stoppte und nun mit zitternden Flanken und Schaum vor dem Mund unter einem Baum stehenblieb.

      *

      »Ein Hubschrauberpilot hat einen schweren Reitunfall in der Nähe eines Waldstücks beobachtet«, berichtete Schwester Monika Ullmann knapp. »Sie bringen den Mann hierher, weil das nächstgelegene Krankenhaus nicht gut genug ausgerüstet ist.«

      »Ein Hubschrauberpilot?« fragte Dr. Winter erstaunt.

      »Ja, die haben offenbar nach einem entlaufenen Sträfling gesucht und dabei den Wald überflogen…«

      »… und das Pferd so erschreckt, daß es durchgegangen ist, was?« fragte Adrian.

      »Kann sein, das haben sie nicht gesagt. Sie fliegen den Mann jedenfalls selbst her.«

      »Ist ein Sanitäter dabei?« fragte Adrian.

      »Ja, der Sträfling ist bei seiner Flucht angeschossen worden, deshalb haben sie alles an Bord gehabt. Den Ausbrecher haben sie übrigens nicht erwischt.«

      »Haben sie was über die Verletzungen des Mannes gesagt?« erkundigte sich der junge Notaufnahmechef.

      »Mehrere Brüche. Aber vor allem hat sein Rücken was abgekriegt.«

      »Das habe ich schon befürchtet«, antwortete Adrian besorgt. »Dann mal an die Arbeit, damit wir vorbereitet sind. Wann wollen sie hier sein?«

      »In ein paar Minuten.«

      Eilig gingen sie daran, eine der Notfallkabinen vorzubereiten. Sie hatten jedoch kaum angefangen, als der Verletzte auch schon gebracht wurde. Im Eilschritt liefen die Männer den Flur der Notaufnahme entlang und betteten den Patienten dann auf die Liege in der vorbereiteten Kabine.

      Dr. Adrian Winter beugte sich über den wachsbleichen Mann und rief im selben Augenblick entsetzt: »Das gibt’s doch gar nicht!«

      »Kennst du ihn?« erkundigte sich Dr. Julia Martensen, die gerade hereinkam.

      »Ja«, antwortete Adrian, während sie beide mit der Untersuchung begannen. »Sein Name fällt mir im Augenblick nicht ein, aber er ist Restaurator. Ich habe ihn in einer Kirche kennengelernt, deren Fresken er restauriert hat. Eine ganz wunderbare Arbeit. Und ein höchst sympathischer, kluger Mann.«

      »Er hat den rechten Arm und mehrere Rippen gebrochen«, stellte Julia fest.

      »Innere Verletzungen hat er nicht, scheint mir.«

      »Aber eine schwere Gehirnerschütterung – mindestens«, murmelte Adrian.

      »Was ist mit seinem Rücken?«

      »Das ist die Frage«, sagte Adrian leise. »Er muß zum Röntgen. Ich will auch, daß ein CT gemacht wird – diese Verletzung an seiner Schläfe gefällt mir nicht. Das sieht so aus, als sei er mit dem Kopf heftig aufgeschlagen. Aber die größten Sorgen bereitet mir sein Rücken.«

      »Du meinst…«, Julia ließ ihre Frage unausgesprochen in der Luft hängen.

      »Warten wir’s ab«, sagte Adrian knapp. »Es muß auf jeden Fall eine neurologische Untersuchung gemacht werden. Wenn er nur aufwachen würde!«

      Julia beugte sich über den jungen Mann und strich ihm sanft über das Gesicht. »Hallo, können Sie mich hören?«

      Die Lider des Mannes flatterten, und ihre Stimme wurde eindringlicher. »Bitte, wachen Sie auf. Wir müssen mit Ihnen reden!«

      Wieder flatterten die Lider, gleich darauf öffnete der Patient die Augen.

      »Guten Tag«, sagte Julia. »Können Sie mich sehen?«

      Der Blick des Mannes nahm einen erstaunten Ausdruck an, dann krächzte er: »Ja.«

      »Wunderbar«, sagte Julia. »Sehen Sie mal, wer hier ist!«

      Nun beugte sich Adrian über den Mann. »Erinnern Sie sich an mich?« fragte er. »Ich habe vor einiger Zeit Ihre Fresken bewundert.«

      Die Antwort ließ auf sich warten, aber dann kam sie klar und deutlich, wenn auch sehr leise. »Nicht meine, Herr Dr. Winter. Ich habe sie… nur restauriert.«

      Adrian machte große Augen. »Sie wissen meinen Namen noch? Ich muß gestehen, daß mir Ihrer einfach nicht einfällt.«

      »John Tanner.«

      Adrian nickte lächelnd. »Natürlich, Herr Tanner, entschuldigen Sie bitte. Sie wissen, daß Sie schwer verletzt sind?«

      Die Augen des jungen Mannes sahen ihn verständnislos an.

      »… weiß nicht, was passiert ist.«

      »Retrograde Amnesie«, murmelte Julia Martensen.

      »Sie hatten einen Reitunfall«, erklärte Adrian, »und sind dabei schwer gestürzt, deshalb hat man Sie zu uns gebracht. Ich möchte jetzt gerne etwas versuchen, ja?«

      Er strich dem Patienten vorsichtig über den linken Unterschenkel und fragte: »Haben Sie etwas gespürt?«

      »Nein«, antwortete John Tanner.

      »Und hier?« Er piekste sanft in den Oberschenkel.

      »Ein bißchen«, lautete die Antwort.

      Adrian lächelte. »Sehr gut. Nun machen wir das Ganze auch noch mit dem anderen Bein.«

      Wieder spürte der Patient die Berührung am Unterschenkel nicht. Der Arzt prüfte die Reflexe und bat John Tanner, seine Zehen zu bewegen. Es gelang ihm nicht.

      »Das war’s schon«, sagte Dr. Winter ruhig. »Wir fahren jetzt mit Ihnen zum Röntgen, Herr Tanner. Danach wissen wir dann genau, wie es in Ihnen aussieht.« Er bemühte sich um einen leichten Tonfall, hörte aber selbst, daß ihm das nur bedingt gelang.

      »Was ist denn… mit mir?« fragte John Tanner.

      »Das versuchen wir gerade

      herauszubekommen«, antwortete Adrian lächelnd. »Machen Sie sich keine Sorgen, wir kümmern uns jetzt um alles. Sollen wir jemanden benachrichtigen, daß Sie hier sind?«

      »Nicht nötig«, murmelte John und schloß die Augen. Er war furchtbar müde.

      Adrians Gesicht war jetzt sehr ernst. Julia und er wechselten einen langen Blick.

      Es war nicht nötig, etwas zu sagen. Sie wußten beide, was die Untersuchung gezeigt hatte.

      *

      Rosemarie Hagen sah ihre Nichte nachdenklich an. Mareike war seit mehreren Tagen bei ihr, aber noch immer weinte sie viel, aß kaum und wurde von Tag zu Tag blasser und unglücklicher. Darüber hinaus hatte sie sich bisher beharrlich geweigert, über ihren Kummer zu reden.

      Doch Rosemaries Geduld war nun zu Ende. »So geht das nicht weiter, Mareike!« sagte sie energisch. »Wenn ich dir helfen soll, dann mußt du schon mit mir reden! Ich weiß ja überhaupt nicht, was los ist – außer, daß du dich scheiden lassen willst.«

      Mareike war bei ihren ersten Worten erschrocken zusammengezuckt, aber nun nahm ihr Gesicht einen schuldbewußten Ausdruck an.

      »Tut mir leid, Tante Rosi«, sagte sie leise. »Ich will es dir jeden Tag erzählen, und dann weiß ich plötzlich nicht mehr, was ich sagen

      soll. Ich weiß überhaupt nicht weiter!«

      »Was ist passiert?«