Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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war er wirklich nicht.

      »Geht er schon?« fragte seine Kollegin Julia Martensen verblüfft. »Hast du ihn entlassen?«

      »Nein, habe ich nicht«, antwortete er seufzend. »Aber er gehört zu diesen Unbelehrbaren, Julia, die sich für unsterblich halten.«

      Die schlanke Endvierzigerin nickte. »So hat er auch gewirkt«, stellte sie sachlich fest. »Vergiß ihn, Adrian. Wir haben jede Menge Arbeit.«

      Er folgte ihr, und bald darauf hatte er Robert Sandberg tatsächlich vergessen.

      *

      »Es ist sehr schön, mit Ihnen hier zu sitzen und zu reden«, sagte Mareike Sandberg. Sie sah Esther dabei offen ins Gesicht, und diese erschrak, als sie das Unglück in den schönen Augen der anderen sah. Aber sie tat, als habe sie nichts davon bemerkt, denn sie ahnte, daß es Frau Sandberg nicht recht gewesen wäre, zuviel von sich selbst zu offenbaren.

      Esther überlegte, ob eine Frau wie Mareike wohl eine Freundin hatte, mit der sie über alles, was sie bewegte, sprechen konnte. Wenn nicht, dann mußte sie sehr einsam sein in ihrem riesigen Haus mit den vielen Dienstboten und dem Mann mit den kalten Augen. Warum sie ihn wohl geheiratet hatte?

      Sie war so in ihre Gedanken versunken, daß sie völlig verblüfft war, als sie plötzlich bemerkte, daß etwas geschehen sein mußte. Denn auf einmal lächelte Mareike Sandberg, ihre Augen glänzten, und auf ihren Wangen lag ein rosiger Schimmer. Im nächsten Augenblick wußte Esther auch, warum das so war.

      Ein dunkelhaariger junger Mann mit blauen Augen blieb an ihrem Tisch stehen und grüßte höflich. Esther kannte ihn genauso gut und genauso wenig wie Mareike Sandberg. Es war John Tanner, von dem sie nur wußte, daß er Künstler war. Außerdem war er ebenfalls leidenschaftlicher Reiter und fiel, wie Mareike auch, in dem exklusiven Reitstall eher aus dem Rahmen. Esther hatte bisher erst wenige Worte mit ihm gewechselt, aber es war jedesmal angenehm gewesen.

      Er war klug, gebildet und überhaupt nicht arrogant. Es war ihr ein Rätsel, wie er in jenen exklusiven Reitclub geraten war. Bei Mareike Sandberg lag es wegen ihrer gesellschaftlichen Stellung auf der Hand, aber bei John Tanner hatte sie sich sogar schon gefragt, ob er überhaupt reich war. Sie hatte ihn ein paarmal in einem uralten, zerbeulten Auto gesehen, und seine Kleidung bestand in der Regel aus Jeans und karierten Hemden oder T-Shirts.

      »Guten Tag, Herr Tanner«, sagte sie freundlich, als sie merkte, daß es Mareike offenbar die Sprache verschlagen hatte. »Warum setzen Sie sich nicht ein wenig zu uns?«

      »Wenn ich nicht störe«, erwiderte er und warf Mareike einen fragenden Blick zu.

      Sie errötete heftig und rückte zur Seite. Dann sagte sie leise: »Natürlich stören Sie nicht.«

      Er setzte sich, und schon bald waren sie in ein angeregtes Gespräch vertieft, an dem sich alle drei beteiligten. Erstaunt sah Esther, daß Mareike auch temperamentvoll ihre Meinung vertreten und richtig aus sich herausgehen konnte. Sieh mal einer an, dachte sie, sie ist gar nicht so sanft und still, wie ich immer dachte. Sie hat auch andere Seiten.

      Und John Tanner? Auch ihn hatte sie bisher noch nie so erlebt. Er war ihr sonst immer eher ernsthaft vorgekommen, aber heute lachte er mehrmals aus vollem Herzen. Schließlich hörte Esther auf, sich darüber Gedanken zu machen, und sie genoß es, sich mit den beiden zu unterhalten.

      Schon lange, so kam es ihr vor, hatte sie kein so interessantes Gespräch mehr geführt.

      *

      Als Mareike nach Hause kam, wirbelten noch immer tausend Gedanken durch ihren Kopf. Wie schön das Leben sein konnte, wenn man mit Menschen zusammen war, mit denen man sich gern unterhielt, die gut zuhören konnten und die über vieles, was in der Welt passierte, nachdachten. Ach, wenn sie doch nur einmal so mit Robert hätte reden können! Aber sobald sie es versuchte, lächelte er nur herablassend und sagte: »Zerbrich dir darüber nicht deinen hübschen Kopf, Mareike, das tun andere schon zur Genüge.«

      Als sie das Haus betrat, spürte sie sofort, daß etwas nicht in Ordnung war.

      Im nächsten Augenblick teilte ihr eins der Mädchen leise mit, Herr Sandberg habe einen Zusammenbruch erlitten, der Arzt sei bereits bei ihm gewesen.

      Die fröhliche Stimmung, die Mareike bis eben noch erfüllt hatte, verflog sofort. Sie eilte die Treppe hinauf in den ersten Stock und stand im nächsten Augenblick am Bett ihres Mannes, dem es sichtlich nicht gutging. Er war sehr blaß und atmete schwer. Das hinderte ihn jedoch keineswegs daran, sie böse anzufunkeln und zu sagen: »Niemand wußte, wo du warst. Ich liege hier seit Stunden und muß mich von Dienstboten versorgen lassen, während sich meine Frau Gott weiß wo herumtreibt!«

      »Aber Robert!« sagte sie erschrocken. »Ich war im Reitstall, das wußtest du doch.«

      »Ich habe dort angerufen, und man sagte mir, du seist bereits wieder fort. Das ist schon Stunden her.«

      »Ich habe mit einer Bekannten noch ein Glas Wein getrunken«, stammelte sie. »Ich konnte doch nicht wissen…«

      »Dein Platz ist hier!« sagte er herrisch.

      »Bei mir. Und nicht bei irgendwelchen Bekannten von irgendwelchen Reitclubs. Wie oft soll ich dir noch sagen, daß du endlich erwachsen werden sollst!«

      Sie sagte nichts mehr, es hatte ohnehin keinen Zweck. Er würde nur immer wütender werden, das wußte sie. Sie konnte es ihm nicht recht machen. Wäre sie hier gewesen, hätte er einen anderen Grund gefunden, um sie zu tadeln.

      »Was ist passiert?« fragte sie leise.

      »Schön, daß du dich auch schon dafür interessierst«, sagte er mit beißendem Spott. »Irgend so ein hergelaufener junger Arzt in einer Klinik hat mir erklärt, ich sei knapp an einem Schlaganfall vorbeigekommen.«

      »Was?« fragte sie entsetzt. »Welcher Arzt denn? Und in welcher Klinik bist du gewesen?«

      »Müller hat sich eingebildet, er müsse mich sofort in eine Klinik bringen«, antwortete ihr Mann mürrisch. »Er hat mich in die Kurfürsten-Klinik gebracht, und dort in der Notaufnahme hat sich so ein junger Schnösel wichtig gemacht.«

      Er schnaubte bei der Erinnerung daran, was er sich alles hatte anhören müssen, obwohl er nach wie vor zugeben mußte, daß ihn die ruhige Souveränität des jungen Arztes sehr beeindruckt hatte. Aber das wußte seine Frau nicht, und sie würde es auch nie erfahren.

      »Und was hat er gesagt, dieser Arzt?« fragte Mareike.

      »Nichts, was ich nicht längst weiß«, antwortete Robert Sandberg. »Wenig Alkohol, viel Bewegung, gesunde Ernährung, kein Stress – kurz gesagt, lauter dummes Zeug. Wir leben hier schließlich nicht auf einer Insel der Glückseligkeit. Ich kann die Welt nicht ändern, ich muß sie so nehmen, wie sie ist.«

      »Etwas könntest du schon ändern«, wagte sie einzuwenden. »Beim Essen und beim Alkohol zum Beispiel…«

      Eine steile Zornesfalte erschien auf seiner Stirn, und sie schwieg erschrocken. »Jetzt fang du nicht auch noch damit an!« rief er erbost. »Mir reicht’s für heute. Und jetzt laß mich allein, ich bin müde.«

      Sie zögerte, aber der Blick, mit dem er sie ansah, war so hart und kalt, daß sie tat, was er wünschte. »Gute Nacht, Robert«, sagte sie leise und ging aus dem Zimmer.

      *

      John Tanner arbeitete an einem Auftrag, den er von einem Museum bekommen hatte. Er restaurierte ein Gemälde aus dem siebzehnten Jahrhundert. Die Arbeit war knifflig und erforderte viel Geduld und handwerkliches Geschick. Normalerweise liebte er solche Aufgaben, aber heute schien es ihm, als habe er zwei linke Hände. Nichts wollte ihm gelingen, für alles brauchte er ewig lange Zeit.

      Stirnrunzelnd sah er auf das, was er bisher geschafft hatte. Es war fast nichts! Woran lag das nur? Sonst arbeitete er in den frühen Morgenstunden am besten, aber heute flogen seine Gedanken hierhin und dorthin, und diese Unkonzentriertheit rächte sich bitter. Dabei hatte er einen Termin, zu dem er die Arbeit abgeschlossen haben mußte. Er konnte es sich nicht leisten, herumzutrödeln.