schmerzlich war.
»Bitte sagen Sie es mir«, bat sie und griff nach Johns Hand. Sie wandte sich bewußt an ihn und nicht an ihren Bruder, der ihr vermutlich viel besser hätte Auskunft geben können. Aber sie wollte von John selbst hören, wie er seine Lage beurteilte, obwohl sie das bereits ahnte.
»Seit ich von Ihrem Unfall gehört habe, bin ich äußerst beunruhigt, und jeder hat mir etwas anderes erzählt. Wir kennen uns zwar nicht besonders gut, aber doch gut genug, daß ich mir wünsche, es möge Ihnen gutgehen.«
Sie hatte mit so viel Anteilnahme gesprochen, daß John unwillkürlich davon berührt war. Adrian hatte sich ans Fenster zurückgezogen und hörte von dort aufmerksam zu. Vielleicht gelang es Esther, die selbstzerstörerische Haltung des Patienten zu durchbrechen.
»Ich bin im Augenblick querschnittsgelähmt«, sagte John heiser. »Aber alle Ärzte, Ihr Bruder nicht ausgenommen, versuchen jeden Tag, mir Mut zu machen. Angeblich ist es nicht ausgeschlossen, daß ich doch wieder gehen kann. Wir haben gerade wieder einmal darüber gesprochen, als Sie zur Tür hereinkamen. Ich habe gesagt, daß ich an eine Heilung erst glaube, wenn ich auf meinen eigenen Beinen dieses Zimmer verlassen kann.«
Danach herrschte Schweigen im Zimmer. Esther wurde klar, wie wichtig ihre nächsten Worte sein würden. John Tanner glaubte den Ärzten nicht. Jedes aufmunternde Wort hielt er offenbar für Zweck-Optimismus. Sie vermied es, Adrian anzusehen, denn auch das, ahnte sie, würde John Tanner falsch verstehen. Als Versuch nämlich, sich über seinen Kopf hinweg wortlos zu verständigen.
»Dann werden wir es wohl abwarten müssen«, sagte sie schließlich nüchtern. »Wenn ich das richtig sehe, sind die Ärzte optimistischer als Sie.«
»So ist es«, bestätigte John Tanner.
»Gibt es Gründe für diesen Optimismus, Adrian?«
»Ja, sicher. Herrn Tanners Beine sind nicht völlig gefühllos. Er hat Empfindungen im Oberschenkel, und…«
»Aber sonst nirgends, und daran hat sich auch nichts geändert, seit ich hier bin«, fiel ihm der Patient ins Wort. »Ich kann nicht einmal meine Zehen bewegen.«
»Natürlich können Sie das nicht, wenn Sie eine Querschnittslähmung haben«, sagte Esther in dem gleichen sachlichen Tonfall wie zuvor. »Aber es ist völlig müßig, darüber zu spekulieren, denn Sie weigern sich offenbar zu hoffen. Und ich finde das ganz vernünftig.«
Er war verblüfft. »Ach ja? Da sind Sie bisher die erste, die das so sieht. Fragen Sie Ihren Bruder. Der bemüht sich jeden Tag, mich dazu zu bringen, daß ich nicht alles nur negativ sehe.«
»Wenn Sie keine Hoffnung haben, dann können Sie auch nicht enttäuscht werden – so sehen Sie das doch, oder?« fragte Esther.
Er sah sie mißtrauisch an. »Worauf wollen Sie eigentlich hinaus? Irgendwie habe ich das Gefühl, daß Sie einen Trick anwenden, um mich auf andere Gedanken zu bringen.«
Esther lachte. »Ach, Herr Tanner, machen Sie die Sache doch nicht so kompliziert. Was ist so Schlimmes daran, Sie auf andere Gedanken zu bringen? Niemand kann im Augenblick etwas Genaues sagen – so ist es doch, oder?«
Er nickte und wartete darauf, daß sie weitersprach.
»Also versuchen Sie, auf Ihre Art mit der Situation fertig zu werden, und die Ärzte versuchen es auf eine andere Art. Niemand weiß, welche Art die bessere ist. Zuviel Optimismus kann genauso falsch sein wie zuviel Verzweiflung. Das muß jeder für sich herausfinden. Natürlich haben Ärzte es lieber, wenn ihre Patienten Hoffnung haben. Aber wenn diese Hoffnung dann enttäuscht wird, dann sind es die Patienten, die damit leben müssen – nicht die Ärzte. Mehr gibt es dazu eigentlich nicht zu sagen.«
Wieder war es still im Zimmer. Adrian stellte erstaunt fest, daß seine kluge ›kleine Schwester‹ mit ihren Worten völlig recht hatte. Auch er selbst hatte versucht, Hoffnung zu vermitteln. Aber was bedeutete das schon, wenn man selbst nicht direkt betroffen war? John Tanner mußte schließlich damit leben, wenn er, entgegen aller Hoffnung, doch nicht wieder laufen konnte.
»Vielen Dank, Frau Dr. Berger«, sagte der Patient nach einer Weile.
»Sie haben mir sehr geholfen.«
»Dann laß ich euch jetzt mal allein«, meinte Adrian. »Wer weiß, was ihr noch alles zu besprechen habt.«
»Einiges«, sagte Esther lächelnd. »Übrigens läuft der Film immer noch, den wir neulich nicht gesehen haben. Wenn du Lust hast, melde dich!«
Adrian nickte und verabschiedete sich. Tief in Gedanken versunken kehrte er in die Notaufnahme zurück.
*
Mareike Sandberg war nach Berlin zurückgekehrt, und sie war froh darüber. Sie sah sich aufatmend in der winzigen Wohnung um. Winzig, aber hübsch. Zwei kleine Zimmer, Küche, Bad, direkt unter dem Dach eines alten Hauses. Sogar einen Balkon hatte sie, der ins Dach eingeschnitten war. Sie hatte Glück gehabt mit dieser Wohnung, die günstig lag und noch bezahlbar war.
Rosemarie Hagen hatte ihr ein paar ausrangierte Möbel, die bei ihr im Keller standen, überlassen, den Rest hatte sie billig gekauft. Die Sache mit dem Geld war noch völlig ungeklärt, das war das nächste, worum sie sich kümmern mußte.
Sie hatte sich an der Universität eingeschrieben und einige Male mit einer erfahrenen Scheidungsanwältin getroffen, der sie ihre Lage geschildert hatte. Diese Anwältin würde sie vertreten. Mareike hatte Vertrauen zu ihr. Es war eine ruhige, ältere Frau, die sehr unaufgeregt an die Sache herangegangen war. Genau das hatte Mareike gebraucht.
Mit Robert hatte sie keinen Kontakt aufgenommen, sie wollte ihn am liebsten gar nicht mehr sehen, aber das würde sich natürlich nicht machen lassen. Je länger sie über die Jahre ihrer Ehe nachdachte, desto unwirklicher erschienen sie ihr. Und sie konnte sich gar nicht mehr vorstellen, wie sie die zahllosen Demütigungen und Bevormundungen von Seiten ihres Mannes überhaupt so lange hatte ertragen können.
Die Presse hatte noch keinen Wind davon bekommen, daß sie nicht mehr mit ihrem Mann zusammenwohnte, und sie war froh darüber. Aber für sie würde man sich höchstens eine kurze Zeitlang interessieren, das wußte sie. Viel wichtiger würde die Antwort auf die Frage sein: Wer ist Robert Sandbergs Neue? Ihr selbst jedenfalls war das herzlich gleichgültig. Dieses Kapitel lag hinter ihr. Zwar war es noch nicht verarbeitet, aber auch das würde kommen.
Und sie würde sehr gern endlich wieder reiten gehen, aber bisher hatte sie sich noch nicht getraut. Was würde sie im Club erwarten? Wie würde man sie behandeln? Hatte Robert auch dort Macht und Einfluß? Eigentlich konnte sie sich die Mitgliedschaft im Augenblick nicht leisten – zumindest so lange nicht, bis sie einen Überblick über ihre finanzielle Lage hatte. Aber sie wäre doch gern wieder einmal mit John Tanner über die Felder geritten.
Was John wohl machte? Sie hatte versucht, nicht an ihn zu denken, aber das hatte natürlich nicht geklappt. Er war ihr viel wichtiger, als sie geahnt hatte. Nein, das stimmte nicht, eigentlich hatte sie es nicht nur geahnt, sondern sogar gewußt, wie wichtig er ihr war. Aber sie versuchte, nicht darüber nachzudenken, denn die ganze Geschichte war schließlich völlig aussichtslos. Sie war es zumindest gewesen. Jetzt freilich…
Ob er sie vermißt hatte? Ach, wie gern hätte sie mit ihm gesprochen!
Das Telefon klingelte und riß sie aus ihren Gedanken. »Na, Schätzchen?« fragte Rosemarie Hagen. »Wie fühlst du dich so ganz allein in deiner neuen Wohnung?«
»Sehr gut!« sagte Mareike mit fester Stimme. »Es war richtig, was ich gemacht habe, Tante Rosi.«
»Davon bin ich überzeugt«, kam die prompte Antwort. »Und wie geht’s nun weiter?«
»Ich bin schon an der Uni eingeschrieben, ich habe mir eine Anwältin gesucht – jetzt fehlt mir nur noch ein Job.«
»Kind, das ist doch Unsinn, ich habe es dir neulich schon gesagt! Deine Familie schwimmt im Geld, dein Mann ist verpflichtet, dir Unterhalt zu zahlen, und…«
Mareike unterbrach sie. »Du brauchst gar nicht