Nina Kayser-Darius

Notarzt Dr. Winter Staffel 1 – Arztroman


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»Heute ist mir die Lust aufs Reiten vergangen.«

      »Da wird Luna aber traurig sein«, sagte Frau Langhammer. »Aber ich kann Sie verstehen, Frau Doktor. Ich war auch ganz krank, als ich es erfahren habe.«

      »Auf Wiedersehen!« rief Esther und ging zurück zu ihrem Wagen. Sie würde direkt in den Reitclub fahren und sich nach Herrn Tanner erkundigen.

      *

      »Du kannst wirklich gern bei mir bleiben für eine gewisse Zeit, Mareike«, sagte Rosemarie Hagen. »Das Häuschen ist nicht groß, aber für zwei reicht es, wie du siehst.«

      Mareike schüttelte den Kopf. »Das ist lieb von dir, Tante Rosi, aber ich muß zurück. Ich muß eine kleine Wohnung finden und irgendeinen Job – und dann gehe ich wieder an die Uni. Ich träume schon lange davon, mein Kunststudium zu beenden, auch wenn ich damit vielleicht nichts anfangen kann.«

      »Einen Job?« fragte Rosemarie erstaunt. »Na, hör mal, das hast du doch gar nicht nötig!«

      »O doch«, entgegnete Mareike. »Ich lasse mich von Robert nicht kaufen. Das sollen die Anwälte unter sich ausmachen – ich meine, was mir zusteht und was nicht. Aber ich will auch ohne das Geld, das er vielleicht bezahlen muß, leben können. Und meine Eltern werde ich nicht um ihre Hilfe bitten, das kann ich dir versichern.«

      »Urteile nicht zu hart über sie«, bat ihre Tante. »Vielleicht haben sie wirklich geglaubt, daß du glücklich wirst mit Robert Sandberg.«

      »Das glaubst du doch selbst nicht!« erwiderte Mareike, und Rosemarie Hagen mußte ihr im stillen recht geben. Nein, sie glaubte es selbst nicht. Es war eine Geldheirat gewesen, für beide Seiten. So und nicht anders mußte man das sehen. Daß Mareike sich tatsächlich in ihren späteren Mann verliebt hatte – oder zumindest geglaubt hatte, verliebt zu sein –, war für die Familien äußerst praktisch gewesen.

      An Mareikes Wohl hatte dabei sicherlich niemand gedacht. Warum auch? In früheren Zeiten waren Ehen auch von den Eltern für ihre Kinder arrangiert worden, und nicht wenige davon waren recht glücklich geworden. Es hätte in diesem Fall ja auch so sein können.

      Nein, dachte Rosemarie, das hätte es nicht. Wenn man Robert Sandberg einmal erlebt hatte, dann wußte man, daß niemand mit ihm glücklich werden konnte. Er befand sich ja nicht einmal im Einklang und im Frieden mit sich selbst.

      *

      John Tanner lag bewegungslos in seinem Klinikbett und versuchte, an nichts zu denken. Doch das war natürlich völlig unmöglich. Tatsächlich ging ihm so vieles auf einmal durch den Kopf, daß ihm manchmal regelrecht schwindelig davon wurde. Der beherrschende Gedanke aber war: Ich werde wahrscheinlich nie wieder gehen können.

      Sosehr sich die Ärzte auch bemühten, Optimismus zu verbreiten, er glaubte ihnen kein Wort. Am meisten vertraute er Dr. Winter, der jeden Tag kam, um ihn zu besuchen, wann immer es seine Arbeit in der Notaufnahme erlaubte. Dr. Winter war seinen Fragen nicht ausgewichen und hatte sie nach bestem Wissen und Gewissen beantwortet. Aber auch er hatte um Geduld gebeten und darauf hingewiesen, daß es durchaus im Bereich des Möglichen war, daß die Lähmung sich noch zurückbildete.

      John konnte es nicht glauben. Er hatte keine Zukunft mehr, das Beste würde sein, sich so bald wie möglich damit abzufinden. Er versuchte, nicht an Mareike Sandberg zu denken, aber er konnte nicht verhindern, daß er ständig ihr Gesicht vor sich sah. Mittlerweile mußte sie längst erfahren haben, was passiert war und daß er hier lag. Er wollte sie nicht sehen. Oder besser gesagt: Er wollte nicht, daß sie ihn so sah, in diesem jämmerlichen, hilflosen Zustand.

      Einige Leute aus dem Reitclub hatten ihn bereits besucht, aber natürlich nicht, weil ihnen etwas an ihm lag, sondern weil sie neugierig waren. Ihm brauchten sie nichts vorzumachen. Er konnte sich lebhaft vorstellen, wie sie erzählten, daß er nie wieder auf die Beine kommen werde. Er stöhnte unwillkürlich laut auf bei diesem Gedanken.

      »So schlimm?« fragte eine freundliche Männerstimme, und im nächsten Augenblick schob sich Dr. Winters Gesicht in sein Blickfeld.

      »Unerträglich«, antwortete er, und er meinte es völlig ernst.

      Der junge Arzt ließ sich auf den Stuhl neben seinem Bett sinken. »Ich kann mir vorstellen, wie Ihnen zumute ist, Herr Tanner«, sagte er hilflos. »Das mag sich für Sie unglaubwürdig anhören, denn ich kann herumlaufen, und Sie können es im Augenblick nicht.«

      »Eben!« sagte John bitter.

      »Ich kann es mir trotzdem vorstellen!« entgegnete Dr. Winter sanft, aber bestimmt. »Und ich würde Ihnen so gern Mut machen. Ihre Lage ist wirklich nicht aussichtslos, glauben Sie mir das.«

      »Ich glaube Ihnen, wenn ich auf meinen eigenen Beinen aus diesem Zimmer gehe«, erwiderte John. »Vorher nicht.«

      Es klopfte, und Dr. Winter warf John einen fragenden Blick zu.

      Der Patient schüttelte den Kopf. »Ich will niemanden sehen«, knurrte er. »Diese ganzen reichen Lackaffen kommen nur, weil sie was zu klatschen haben wollen.«

      Obwohl niemand »Herein« gesagt hatte, wurde die Tür nun vorsichtig geöffnet, und eine junge Frau streckte ihren Kopf ins Zimmer. Weiter wagte sie sich offensichtlich nicht hinein.

      »Esther!« rief Adrian erstaunt. »Was suchst du denn hier?«

      Sie war offenbar nicht minder erstaunt, ihn zu sehen. »Dich jedenfalls nicht«, antwortete sie und öffnete die Tür nun richtig, um einzutreten. »Guten Tag, Herr Tanner«, sagte sie. »Ich habe jetzt erst erfahren, daß Sie hier sind, sonst wäre ich schon viel früher vorbeigekommen.«

      »Guten Tag, Frau Berger«, antwortete John leise.

      »Ihr kennt euch?« rief Adrian. »Wieso weiß ich nichts davon?«

      »Warum solltest du?« fragte Esther erstaunt. Sie war nähergetreten und gab John Tanner die Hand. Dann beugte sie sich zu ihrem Bruder und gab ihm einen Kuß auf die Wange.

      »Ich wußte auch nicht, daß Sie sich kennen«, bemerkte John, der die Begrüßung der Geschwister aufmerksam beobachtet hatte. Die beiden schienen sich sogar sehr gut zu kennen, denn diese Begrüßung hatte etwas sehr Vertrautes an sich. Ob sie…

      »Adrian ist mein Bruder«, stellte Esther sachlich fest. »Mein Zwillingsbruder, um genau zu sein. Nicht, daß Sie auf falsche Gedanken kommen, Herr Tanner!«

      »Und Herr Tanner ist der begnadete Restaurator, von dem ich dir einmal erzählt habe«, sagte Adrian. »Erinnerst du dich? Der mit den Fresken. Aber du hast damals nicht gesagt, daß du ihn kennst.«

      »Du hast seinen Namen nicht genannt, Brüderchen. Und außerdem wußte ich zwar, daß Herr Tanner Künstler ist, aber nicht, daß er restauriert. Wir kennen uns vom Reiten.«

      Adrian lächelte. »Dann wäre ja jetzt alles geklärt.«

      »Überhaupt nicht!« widersprach seine Schwester energisch. »Wieso bist du überhaupt hier und nicht in deiner Notaufnahme?«

      »Herr Tanner ist bei uns eingeliefert worden, und seitdem besuche ich ihn, wenn ich mal ein bißchen Zeit habe. Ich bin nicht mehr sein Arzt, falls es das war, was du wissen wolltest. Ich bin gewissermaßen als Freund hier.«

      »Typisch Geschwister«, murmelte John vor sich hin. Das kleine Geplänkel hatte ihn von seinen düsteren Gedanken abgelenkt. »Immer müssen sie streiten.«

      »Streiten?« fragte Adrian erstaunt. »Aber wir streiten doch nicht, Herr Tanner. Wenn wir das tun, hört sich das ganz anders an, das können Sie mir glauben.«

      »Ganz anders!« bekräftigte Esther. »Und nun erzählen Sie mal, Herr Tanner, wie es Ihnen geht. Ich habe nur schreckliche Gerüchte gehört, die ich aber alle lieber nicht glauben möchte. Und jetzt, wo ich Sie vor mir sehe, kann ich schon sagen, daß mindestens die Hälfte davon nicht stimmt. Ich hoffe, die andere Hälfte ist auch falsch.«

      Das Gesicht des Patienten verdüsterte sich, und fast bedauerte sie schon, ihn gefragt zu haben. Auch Adrian sah auf einmal sehr ernst aus. Ihr wurde klar, daß sie