Karl König

Die zwölf Sinne des Menschen


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lässt sich aufgrund ihrer qualitativen Wesensinhalte beschreiben, in ihren gegenseitigen Verhältnissen untersuchen und begrifflich darstellen, ohne den Bereich des sinnlich Gegebenen zu überschreiten. Dies sei am Beispiel der Farben verdeutlicht: die Farbqualitäten lassen sich rein phänomenal nach ihren Wesenseigenschaften beschreiben und nach ihren unmittelbar erlebten Verwandtschafts- und Komplementaritätsverhältnissen in eine bestimmte Ordnung bringen, z. B. den Goethe’schen Farbenkreis, die Runge’sche Farbenkugel oder neuere Systeme des Farbendreiecks und Farbenkörpers. Gegenüber der Objektivität oder Subjektivität der Farben ist diese Farbenordnung völlig invariant; sie gilt unabhängig davon, ob es sich um Körperfarben, Lichtfarben oder Nachbilder handelt. Es liegt in unserer freien Entscheidung, dass wir die Wahrnehmungsdimension nicht nur – wie im natürlichen Alltag zumeist – auf die Dinge und die an ihnen als Eigenschaften auftretenden Sinnesqualitäten richten können, sondern, unter Abstraktion von den Dingen, auf die Qualitäten selbst.

      «Wir können darüber hinaus im sinnesphysiologischen Experiment diese Qualitäten in reiner Form zum Erlebnis bringen. Hier zeigt sich eine spezifisch menschliche Fähigkeit des Wahrnehmens, die über die naturgegebenen Lebenszusammenhänge hinausreicht. Auf diesem Wege gelangen wir schließlich zu elementaren, nicht weiter analysierbaren Erlebnissen. Es sind dies die sogenannten einstelligen Elemente der Sinnesmannigfaltigkeit, z. B. das Erlebnis der Farbe Rot. Was Rot ist, kann man nicht definieren und deshalb auch nicht mit Worten sagen; man kann es nur erleben, und wer diese Erlebnisfähigkeit nicht besitzt, etwa weil er farbenblind ist, dem ist auch mit Definitionen nicht zu helfen.»8

      Wie viele Sinne besitzt der Mensch?

      Je nachdem wie sorgfältig man die auf Ähnlichkeitserlebnissen beruhenden Modalbereiche fasst oder phänomenologisch untersucht, wird man zu einer verschiedenen Anzahl von Sinnen gelangen. Die Sinneslehre von Aristoteles umfasst fünf Sinne, die neuere konventionelle, ästhesiologische Sinnenphysiologie unterscheidet acht bis zehn Sinne, Rudolf Steiner hat bei seiner ersten Auseinandersetzung (1909) zehn Sinne beschrieben, um später, ab 1916, zwölf Sinne zu beschreiben.9 Die Zahl zwölf ist auch für die von Karl König verfolgte Sinneslehre maßgebend. Da Karl König im Zuge seiner genialischen Schaffenskraft der von ihm vertretenen Sinneserkenntnis zwar eine durch seine Persönlichkeit eigenständig geprägte Auffassung zum zwölfgliedrigen Sinnesorganismus vertrat, andererseits aber sich ausdrücklich als ein Geistesschüler Rudolf Steiners empfand, auch bei seinen den Sinnen gewidmeten Vorträgen ausdrücklich Rudolf Steiner als Kronzeugen nennt, sei zunächst der Ansatz Rudolf Steiners zur Sinnesauffassung dargelegt.

      Er, Rudolf Steiner, hat in seinen frühen erkenntnistheoretischen Schriften nicht nur die prinzipielle Unhintergehbarkeit dessen aufgezeigt, was uns die Sinne zeigen. In vier Vorträgen unter der Rubrik «Anthroposophie» (1909) hat Rudolf Steiner zudem das Spektrum der klar voneinander abgrenzbaren Sinne deutlich erweitert, indem er folgende Erlebnisbezirke als Sinne benennt und skizziert, welchen Sinnesbereich sie erschließen:

      An Sinnen, die uns das eigene Leibeserlebnis vermitteln, werden als «untere» Sinne genannt:

      Lebenssinn

      Eigenbewegungssinn

      Gleichgewichtssinn

      An umweltbezogenen «mittleren» Sinnen führt Steiner folgende Sinne an:

      Geruchssinn

      Geschmackssinn

      Gesichtssinn

      Wärmesinn

      Interessanterweise grenzt Steiner den Hörsinn hiervon ab und rechnet ihn zu den «oberen» Sinnen. An weiteren, an den Hörsinn angrenzend, zeigt Steiner noch folgende Sinne auf, die zuvor nicht als Sinne erkannt worden waren:

      Hörsinn

      Wortsinn

      Gedankensinn

      Diese Auflistung bedarf einer kurzen Kommentierung. Was die auf das Erleben der eigenen Leiblichkeit bezogenen Sinne betrifft, so handelt es sich im Rahmen des 1909 gehaltenen Vortrags sowohl um eine Neu- als auch um eine Erstbeschreibung. Dazu Steiner: «Was ist der Lebenssinn? Er ist etwas im Menschen, was er eigentlich, wenn alles in Ordnung ist, nicht fühlt, sondern nur dann fühlt, wenn etwas in ihm nicht in Ordnung ist. Der Mensch fühlt Mattigkeit, die er wahrnimmt, als ein inneres Erlebnis, wie er eine Farbe wahrnimmt. Und das, was im Hunger- oder Durstgefühl zum Ausdruck kommt oder was man ein besonderes Kraftgefühl nennen kann, das müssen Sie auch innerlich wahrnehmen wie eine Farbe oder einen Ton. Man nimmt dies in der Regel nur wahr, wenn irgendetwas nicht in Ordnung ist. Die erste menschliche Eigenwahrnehmung wird durch den Lebenssinn gegeben, durch den der Mensch als ein Ganzes sich seiner Körperlichkeit nach bewusst wird […] Niemand kann Sinne verstehen, der nicht weiß, dass es eine Möglichkeit gibt, sich als Ganzes innerlich zu fühlen, sich als einer innerlich geschlossenen körperlichen Gesamtheit bewusst zu werden.»10

      Diese Ausführungen weisen darauf hin, dass der Erfahrungsbereich des Lebenssinns einen Teil desjenigen ausmacht, was wir als unser Befinden bezeichnen. Hinzu kommt hier, dass die durch den Lebenssinn erfahrenen Qualitäten – wie bei allen leibbezogenen Sinnen auch – von Steiner nicht etwa als subjektive Erlebnisse, sondern als objektive Erfahrungen begriffen werden. So führt Steiner in einem anderen Zusammenhang aus: «Nehmen Sie den Menschen in Bezug auf das, was durch diese letzten vier Sinne (Gleichgewichts-, Bewegungs-, Lebens-und Tastsinn; d. Verf.) wahrgenommen wird; es sind, trotzdem wir die Dinge wahrnehmen – unsere eigene Bewegung, unser eigenes Gleichgewicht –, es sind, trotzdem wir das, was wir wahrnehmen, auf entschieden subjektive Weise nach innen hin wahrnehmen, dennoch aber Vorgänge, die ganz objektiv sind. Das ist das Interessante an der Sache. Wir nehmen diese Dinge nach innen hin wahr, aber was wir da wahrnehmen, sind ganz objektive Dinge, denn es ist im Grunde genommen physikalisch gleichgültig, ob, sagen wir, ein Holzklotz sich bewegt oder ein Mensch, ob ein Holzklotz im Gleichgewicht ist oder ein Mensch. Für die äußere physische Welt in ihrer Bewegung ist der sich bewegende Mensch ganz genau ebenso zu betrachten wie ein Holzklotz; ebenso mit Bezug auf das Gleichgewicht. Und wenn Sie den Lebenssinn nehmen, so ist es so, dass das, was unser Lebenssinn übermittelt, ganz objektive Vorgänge sind. Stellen Sie sich vor einen Vorgang in einer Retorte: er verläuft nach gewissen Gesetzen, kann objektiv beschrieben werden. Das, was der Lebenssinn wahrnimmt, ist ein solcher Vorgang, der nach innen gelegen ist. Ist er in Ordnung, dieser Vorgang, ganz als objektiver Vorgang, so übermittelt Ihnen dieses der Lebenssinn, oder ist er nicht in Ordnung, so überliefert Ihnen der Lebenssinn auch das. Wenn auch der Vorgang in Ihrer Haut eingeschlossen ist, der Lebenssinn übermittelt es.»11

      Dieser Aspekt findet sich neuerdings auch durch empirische Untersuchungen bestätigt. Entgegen einem weit verbreiteten Vorurteil handelt es sich bei vielen Formen des Sich-krank-Fühlens keineswegs nur um subjektive Erlebnisweisen, denen in der Patient-Arzt-Beziehung ein Erkenntniswert nicht zugebilligt werden kann. Sie gehören vielmehr zu der auf den eigenen Leib bezogenen Sinnesmodalität, die auch als Coenästhesie12, als Allästhesie13 oder als Lebenssinn14 bezeichnet werden.

      Subsumierend finden sich in diesem Modalbereich sogenannte Komfort- und Diskomfortempfindungen, die jeweils auf eine aktuelle, konkrete und objektivierbare eigenleibliche physiologische Situation hinweisen. So ist von Cabanac, Beste, Hensel, Hildebrandt und anderen nachgewiesen worden,15 dass die Komfort- bzw. Behagensempfindungen bei Wärmeapplikation auf die Hand von der integralen Hauttemperatur, also vom Gesamtwärmezustand abhängen. Bei relativ erhöhter Körperwärme wird eine kühlere Temperatur an der Hand (unter 30°C) als angenehm, eine höhere (über 37°C) dagegen als unangenehm empfunden. Umgekehrt gilt für die Komfortempfindungen bei niedriger Körpertemperatur, dass Erwärmung der Hand als angenehm, Kühlung aber als unangenehm erlebt wird. Die Korrelation der Behagensempfindung an die gemessene Temperatur ist dabei so eng, dass für eine willkürliche Deutung des Behagens kein Spielraum bleibt. «Die Lebensempfindungen sind vielmehr ein exakter Gradmesser für den ausgeglichenen integralen Wärmezustand.»16

      Entsprechende Korrelationen zwischen den Empfindungen «angenehm» und «unangenehm» im Hinblick auf den Süßgeschmack in Abhängigkeit von der Höhe des