Klaus Mann

Der Vulkan


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stand mit ihrer Bitterkeit und ihrem Haß ganz allein. Sie dachte an ihren Gatten und gab niemandem mehr die Hand, der ein Hakenkreuz im Knopfloch trug oder Heil Hitler rief. Wenn sie einem Trupp von Braunhemden auf der Straße begegnete, hielt sie sich ostentativ die Nase zu, anstatt den Arm zu recken. „Nazis stinken”, behauptete sie, und wäre einmal fast verprügelt worden, weil eine Kleinbürgersfrau, die neben ihr stand, es gehört hatte.

      Marion war abgereist, nachdem die Geheime Staatspolizei mehrere ihrer nächsten Freunde verhaftet hatte. Auch Tilly, die sich mit dem jungen Bruck in linken Versammlungen gezeigt hatte, wurde gewarnt: es lägen bei der Gestapo Denunziationen gegen sie vor – anonyme Briefe, wahrscheinlich von den guten Freundinnen ihrer Mutter –; sie sei in akuter Gefahr. Ihren Konni traf sie nur noch in aller Heimlichkeit; ein paar Nächte lang schlief sie nicht mehr zu Haus. Es war ein unhaltbarer Zustand. Marie-Luise empfand es als unter ihrer Würde, in einem Lande zu bleiben, wo ihr Gatte – wenn er noch lebte – Beleidigungen ausgesetzt gewesen wäre, und wo anständige Menschen ihres Lebens nicht mehr sicher sein konnten.

      Tilly hatte erwartet, sie werde ihre Mama mit großer Eloquenz zur Abreise überreden müssen. In Wahrheit stand es bei Marie-Luise schon fest, daß im Dritten Reiche ihres Bleibens nicht war, ehe Tilly auch nur angefangen hatte zu sprechen. Ohne irgendwelches Aufheben zu machen, still und umsichtig, hatte die Mutter mit den notwendigen Vorbereitungen begonnen.

      Tilly ihrerseits wäre für die Emigration nicht zu haben gewesen, wenn nicht der junge Bruck – dem die Vorstellung unerträglich war, daß die Freundin seinetwegen in Gefahr kommen könnte – sie dazu bestimmt hätte: Er mußte ihr gegenüber wirklich alle jene Überredungskünste anwenden, die bei der geborenen von Seydewitz überflüssig waren. Konni versprach, in ein paar Wochen oder Monaten ins Ausland nachzukommen. Es war das erste Mal, daß er Tilly belog. Seine entschiedene Absicht war es, in Berlin zu bleiben und der illegalen Opposition, die sich gleich nach der „Machtergreifung” zu formieren begann, alle seine Kräfte zur Verfügung zu stellen. Er war zwanzig Jahre alt, studierte Physik und glaubte mit einer Zuversicht, die jedem Widerspruch mit stolzem Achselzucken begegnete, daß die Marxistischen Dogmen und Prophezeiungen in einem ebenso objektiven, indiskutablen Sinne „wahr” seien wie gewisse Naturgesetze oder mathematische Regeln. Man verhaftete ihn, als er versuchte, vor Beginn der Kollegs antifascistische Flugblätter im Universitätsgebäude zu verteilen.

      Das geschah kaum einen Monat nachdem Tilly mit ihrer Mutter in Zürich eingetroffen war. Die Beiden saßen am Frühstückstisch – man hatte vom Hotelzimmer aus die schönste Aussicht über den See, auf dessen dunstiger Fläche die Segelschiffe zu schweben schienen –; der Liftboy brachte den Brief, er war von einem Kameraden des jungen Bruck, trug den Poststempel „Prag” und war mit den Initialen „H. S.” gezeichnet. Tilly durchflog die Zeilen. Sie ließ das Papier zu Boden fallen, dabei schrie sie leise und faßte sich mit beiden Händen an die Brust, als hätte jemand ihr einen furchtbar schmerzhaften Schlag versetzt. Sie bekam keinen Atem mehr. Die Mutter dachte, mein Gott, es sind diese asthmatischen Zustände, die hat sie doch seit Jahren nicht gehabt. Tilly keuchte und bearbeitete mit kleinen hilflosen Faustschlägen ihre um Atem ringende Brust. In einem Gesicht, das weiß geworden war wie das Tischtuch, öffneten sich die weichen und nassen Lippen zur Klage. Die Augen waren noch trocken, aber sie schienen nichts mehr zu sehen: ehe noch die Tränen sie blind machten, nahm ihnen der betäubende Schmerz schon den Blick. Bei sehr großen Affekten, in der Wollust oder in der Verzweiflung, bleibt den Menschen nichts übrig, als das festgelegte, klassisch stilisierte Bild zu stellen. Gerade die ungeheuersten Gemütsbewegungen drücken sich in der höchst konventionellen Pose aus. Das Individuelle tritt zurück; was bleibt ist der menschliche Ur-Typ. Tilly von Kammer – am Frühstückstisch in diesem Züricher Hotelzimmer – stellte, sich die Brust schlagend und das Haupt mit den tragisch blicklosen Augen langsam hin und her wiegend, das klassische Bild: Junge Frau, die Trauerbotschaft empfangend.

      Auch die Mutter verhielt sich genau so, wie die Zeugin der Jammerszene, die an der Katastrophe primär Unbeteiligte, nur indirekt und nur durch Mitleid Betroffene sich nach den klassischen Regeln der Tragödie benimmt. Marie-Luise flüsterte mit bleichen Lippen: „Was ist dir, mein Kind?”

      „Konni …”, brachte das Mädchen hervor. Nun schien sie wirklich keinen Atem mehr zu bekommen. – „Ist er tot?” fragte die Mutter rasch; ihrem temperierten Gefühl hätte einzig und allein eine Todesnachricht Tillys maßlose Reaktion plausibel gemacht.

      Tilly konnte noch sagen: „Nein … Es ist beinah schlimmer … Konzentrationslager … Sie haben ihn in ein Konzentrationslager gebracht …”

      Frau von Kammer fand es schwierig, dazu irgendetwas zu äußern. Übrigens verband sie mit dem Begriff „Konzentrationslager” keine sehr genauen, plastischen Vorstellungen. Um doch nicht völlig stumm zu bleiben, sagte sie, etwas matt: „Armer Kerl!” Und fügte hinzu – was sie eine Sekunde später bereute –: „Aber warum läßt sich ein begabter junger Mensch auch mit dieser schmutzigen Politik ein? Ich wußte immer, daß es nicht gut ausgehen würde …” – Tilly, die sonst ähnliche Bemerkungen der Mutter zu ignorieren pflegte, war diesmal fassungslos. Während sie schon durchs Zimmer stürzte, auf die Türe zu – in einer Haltung, als fliehe sie aus einem Raum, der in Flammen stand, und als hinge alles, selbst die Rettung Konnis, davon ab, daß sie die Türe in der nächsten Sekunde erreiche – murmelte zwischen den Zähnen: „Und sonst hast du mir nichts zu sagen, Mama?!” Ja, das war wohl Haß, was ihr nun die Züge zu einer schlimmen kleinen Grimasse verzerrte und was als ein flüchtiges, aber intensives Funkeln aus ihren Augen kam. Die Hand hatte sie schon an der Türklinke. Jetzt weinte sie endlich. Der Zorn über die Kränkung, welche die arme, ahnungslose Mutter ihr zugefügt, machte die Tränen frei: nun strömten sie ihr reichlich über die kindlich gerundeten Wangen. „In was für einer Welt lebst du denn?!” rief die Schluchzende noch über die Schulter. Dann war sie hinaus.

      Frau von Kammer blieb in sehr aufrechter Haltung am Frühstückstisch sitzen. Sie sah alt aus – älter als sie eigentlich war. Ihr Haar hatte jene unbestimmte, aschblonde Farbe, von der sich kaum feststellen ließ, ob es schon ergraut, oder nur verblichen, glanzlos geworden war. Die Falten zwischen den Brauen und um die gepreßten Lippen hatten sich während der letzten Monate verschärft und vertieft. Der Anblick ihres zu schmalen, zu langen und zu harten Gesichtes, mit den eingefallenen Wangen, der feinen Nase und dem kantigen Kinn, ließ an ein sehr gutrassiges, abgearbeitetes, stolzes und etwas müdes Pferd denken.

      Die Mutter stand seufzend auf. ‚Wenn das mit Tillys Asthma-Anfällen nun wieder losgeht’, dachte sie, –: ‚eine schöne Geschichte! – Konzentrationslager … Konzentrationslager … Welch ein Irrsinn!’ – Sie wollte sich selber nicht zugeben, wie sehr es ihr leid tat, daß sie ihr großes Mädchen nicht tröstend in die Arme geschlossen hatte, anstatt sie durch ihre gefühllose Bemerkung noch weiter zu verletzen.

      Tilly ging Tage lang schweigsam, mit bleicher, verstörter Miene umher. Sie war beinah dazu entschlossen, nach Berlin zu fahren, um ihrem Konni zu helfen – auf welche Weise, war ihr selber nicht klar. Sie schrieb dem Kameraden des jungen Bruck – dem Mann, der so geheimnisvoll als „H. S.” signiert hatte – an seine Deckadresse in Prag und erkundigte sich bei ihm, was er von ihrem Reiseplan halte. Er erwiderte, kurz und bündig: Das ist Quatsch. Du kannst dem Jungen nichts nützen und bringst dich selbst in Gefahr. – Merkwürdiger Weise nannte der Unbekannte sie „Du”. Tilly wunderte sich darüber; fühlte sich aber auch geschmeichelt und, auf eine fast sinnliche Art, gereizt. Konnis Freund rechnete sie also zu den Zuverlässigen, den Genossen … Dabei hatte sie sich eigentlich nie für Politik interessiert. Nur um die Abende mit Konni verbringen zu können, hatte sie ihn zu den Meetings begleitet – die tödlich langweilig für sie gewesen wären, wenn er nicht neben ihr gesessen hätte. Sie liebte ihn. Jetzt erst, da sie ihn verloren hatte, ermaß sie es ganz, wie sehr sie ihn liebte und brauchte. Sie dachte immer an ihn, und sie weinte viel. Das Ärgste war, daß keine Nachricht von ihm kam – keine Zeile. Erreichten ihn denn die langen Briefe, die sie ihm fast täglich schrieb? Auch der mysteriöse H. S. in Prag hatte seinerseits nichts von Konni gehört: er teilte es Tilly, die ihn brieflich mit Fragen bestürmte, lakonisch mit. – Wie mochte dieser H. S. aussehen? Tilly beschäftigte sich zuweilen mit der Frage. Seine Handschrift war sympathisch, übrigens recht