empfohlen waren und die ihre Mutter anhand der Liste kaufte, ohne einen Blick hineinzuwerfen, las Maria aufmerksam durch. So konnte sie die meisten Gedichte bereits zu Anfang des Schuljahres auswendig. Ihr ausgezeichnetes Gedächtnis kam ihr aber auch sonst zugute, immer wieder flocht sie in Gesprächen wie zufällig Zitate ein und vergaß dabei nicht, den Namen des Autors und den Titel des Werkes zu erwähnen – ein erprobter Trick, mit dem sie ihre Zuhörer oft verblüffte. Doch irgendwann war es ihr über geworden. Seit mehr als zwei Jahren las sie nichts mehr. Nicht einmal die Zeitung. Wenn sie zu Hause war, sah sie fern oder chattete.
Den Computer kannte sie wie ihren Körper. Seitdem sie zehn war, hing sie ganze Tage davor, wenn ihre Eltern nicht da waren, auch einen Teil der Nacht. Und ihre Eltern waren oft nicht da, besonders als das Geschäft anlief. Sie tischten ihr jeden Morgen einen Zwanziger auf, wie Maria es nannte, küssten sie, meist während sie noch schlief, zum Abschied und schrieben mit großen Buchstaben auf ein Blatt Papier »Lerne mehr und sitz nicht so viel vor dem Computer!« Dann lehnten sie das Blatt an die Vase, damit sie es sofort sah, wenn sie aufwachte, und stürzten aus dem Haus.
Maria wartete nur darauf. Bevor sie sich das Gesicht gewaschen hatte, ja praktisch noch beim Aufstehen griff sie zur Maus und begann zu spielen. Gierig dirigierte sie ihren Helden, sie nutzte die verschiedensten, manchmal auch unerlaubten Tricks und lavierte sich durch Kollisionen und schaurige Gemetzel. Der Bildschirm lief mit Blut voll, doch das schreckte sie nicht – sie war daran gewöhnt. Wichtig war zu gewinnen. Und sie gewann. Natürlich vergaß sie dabei nicht, den Zwanziger einzustecken, noch bevor sie ihre Lektionen lernte. Es ging zum Glück schnell, dank ihres guten Gedächtnisses.
Maria wickelte auch ihre Lehrer ohne große Anstrengungen um den Finger. Die allgemeine Anarchie hatte auch ihre Schule erfasst und die meisten Mitschüler schwänzten. Die wenigen, die doch kamen, feilschten um Zensuren, stritten mit den Lehrern, pinkelten vor ihnen in die Waschbecken und drohten, sich bei ihren Eltern zu beschweren. Dieses skandalöse Auftreten führte oft dazu, dass die Lehrer es nicht schafften, den Lehrstoff zu vermitteln. Überhaupt die Lehrer. Weder damals noch heute verstand Maria ihre Nachgiebigkeit. Aber sie interessierte sich sowieso nur für das, was sie persönlich betraf. Und in jenen Jahren war das der Zwanziger ihres Vaters. Warum auch nicht? Der Zwanziger ermöglichte es ihr, sich von der Masse ihrer Mitschüler abzuheben, die mit einem Lew fürs Frühstück in die Schule kamen. Ganz zu schweigen von denen, die ihr Frühstück von zu Hause mitbrachten und die nicht eine Stotinka in der Tasche hatten. Und ohne sich dessen bewusst zu sein, gab Maria vor den anderen an – am Kiosk kaufte sie sich alles, was ihr Herz begehrte. Einfach so, vor den Augen ihrer Mitschüler. Es war etwas anderes, die Tochter reicher Eltern zu sein, alle starrten einen an. Sie scharwenzelten um einen herum, schmeichelten. Iwan aus der Clique zog sie oft damit auf: »Mach dir nichts draus, du kannst sowieso nicht mitreden. Du lebst in einer anderen Wirklichkeit.«
Mit ihren Kommilitonen war es dasselbe. Auch sie schmeichelten ihr, obwohl der Großteil von ihnen zwei Jobs hatte, um sich das Studium an der dämlichen Uni leisten zu können. Maria fand es abstoßend, wie die anderen sich beim Hüten fremder Kinder, beim Putzen fremder Häuser und bei der Pflege einsamer alter Leute abrackerten. Die ständige Müdigkeit ihrer Mitstudenten nervte sie; einige schliefen sogar während der Vorlesungen auf den Bänken ein. Und sie waren immer in Eile – sie rannten von der Uni zur Arbeit und von der Arbeit zur Uni. Nie hatten sie Zeit. Sogar ihre Einladungen ins Café, ins Kino, zu abgefahrenen Feten und coolen Partys schlugen sie aus, auch wenn Maria noch so sehr betonte: »Ich zahle.«
Im Unterschied zu den anderen nutzte Maria jeden Abend, um ihren neugierigen kleinen Hintern auszuführen. So hatte sie zum Beispiel ihre Schulfreundin Dafina zu ihrer Begleiterin auserkoren und mit in eine Lesbenbar geschleppt. Anfangs hatte Dafina sich mächtig gesträubt:
»Was sollen wir denn in einer Lesbenbar? Was soll das bringen?«
»Wir werden sie uns einfach mal ansehen. Mal gucken, was da los ist.«
»Es interessiert mich nicht. Ich finde das doof. Geh allein.«
»Oh nein, das geht nicht, Dafi. Ich habe mich erkundigt. Es werden nur Pärchen reingelassen. Du wirst also mein Kavalier sein.« Und sie lachte dabei.
»Wie kommst du bloß auf so etwas? Ich verabscheue Perverse. Sie stören mich zwar nicht, aber sie sind mir zuwider.«
»Aber das ist doch spannend! Wir hängen ein bisschen ab, trinken was, und wenn es uns über wird, hauen wir wieder ab.«
»Nein, ich finde deine Idee alles andere als prickelnd.«
»Aber nicht etwa wegen der Kohle? Du weißt doch – ich zahle.«
»Nein, es ist nicht wegen des Geldes. Es ist mir widerlich. Was soll ich mir da angucken, wie sie sich ablecken? Zu den Punkern bin ich ja mitgekommen, aber da waren wir auch erst fünfzehn. Und das war etwas anderes – Männer, Sex …«
»Ach ja,« – Maria schlug sich gegen die Stirn –, »die Punker hatte ich ganz vergessen. Und was haben wir denn damals schon über Sex gewusst. Und von wegen Männer – Jüngelchen waren das, in unserem Alter. Und dann war da dieser verflixte Wunsch, es zu probieren, uns groß zu fühlen, obwohl wir uns schämten und Angst hatten …«
»Vor dem Sex, genau. Doch dann …«
»Hmm, ich habe es dort zum ersten Mal gemacht. Direkt auf der Erde. Mit einem Punker.. Wie hieß der noch? Ach, ich hab’s vergessen. Ist ja auch egal.«
»Erzähl doch mal! Stimmt das wirklich?«
»Warum sollte ich dir was vorflunkern? Du weißt doch, dass das bei den Punkern ein fester Programmpunkt war. Und wir waren die Neuen. Ich hatte erst Angst, sie würden mich für völlig verklemmt halten und zurückweisen. Außerdem machten es alle um uns herum, einfach so – für die Idee der Freiheit. Und es war unwichtig mit wem. Hast du damals nicht auch …«
»Nein, obwohl, versucht hatte ich es schon, ich bin mit einem von ihnen abgezogen … Aber es ging nicht. Ich habe Angst gekriegt. Und dann wollte ich auch nicht wie alle anderen sein.«
»Ich dachte, du hättest damals auch… Na ja, wie auch immer. Aber wann hattest du denn dann dein erstes Mal? Das hast du mir nie erzählt.«
Dafina biss sich auf die Lippen und starrte schweigend auf Marias Schuhe, als gäbe es im Moment nichts Wichtigeres. Doch Maria ließ nicht locker:
»Sag’s mir schon, wir sind doch Freundinnen!«
»Ich war schon ziemlich alt, achtzehn. Ich hab’s mit Wassil getan – ich glaubte damals, ich sei verliebt in ihn«.
»Sag bloß! Echt? Wassil?« Maria versuchte sich zu erinnern. »Wassil … war das nicht so ein Trottel?«
»Ach, lassen wir das.«
»Komm, lass uns gehen.«
»Wohin denn?«
»Wie wohin – zu den Lesben!«
»Dieses Mal will ich wirklich nicht. Was haben wir denn bei den Lesben verloren? Es wird mich anwidern – genau wie bei den Ritzern.«
»Wow! Richtig, bei denen haben wir ja auch schon reingeschaut.«
»Genau! Und was ich damals für einen Horror durchlebt hab …«
»Was war denn daran so schlimm?«
»Also bitte! Es war doch wirklich gruselig. Wie sie sich selbst wehgetan haben! Gestochen haben sie sich, geschnitten, mit Rasierklingen haben sie sich geritzt und die Zähen mit Messern. Ich habe mich echt gewundert wie sie diese Schmerzen aushielten. Und zum Schluss haben sie mir erklärt, das sei ihr Protest gegen die Gefühlskälte der Gesellschaft. Piercings hatten sie auch. Meist an den schmerzempfindlichsten Stellen. Der Eine wollte mir unbedingt seine zeigen – er hatte an seinem besten Stück zwei, ganz oben an der Spitze.«
»Hast du sie gesehen?«
»Quatsch! Mir hat es gereicht, ihren Irrsinn und die Schminke zu sehen. Echt grotesk das Schwarz um die Augen, schwarzer Lippenstift, schwarzer Nagellack, schwarze …«
»Nun