Bisshöhe aufgrund der Alveolarkammatrophie hat zu einer Vorrotation des Unterkiefers gegen den Uhrzeigersinn im Drehpunkt des Kiefergelenks geführt. Das hat eine Pseudoprogenie verursacht. Die Augmentation (z. B. durch Le-Fort-I-Interposition im Oberkiefer und Sandwich-Interposition im Unterkiefer) führt zu einer Bewegung der Alveolarfortsätze in Richtung der roten Pfeile. Das Ziel ist, durch Zahnimplantate wieder den Zustand bei Vollbezahnung (rechts) zu erzeugen. b. Durch die Alveolarkammatrophie sind die mimischen Muskeln nicht vorgespannt. Die Lippen rollen sich ein und insbesondere der Musculus mentalis verliert seinen oberen Ansatzpunkt auf Höhe der Wurzeln der unteren Schneidezähne. Dadurch sackt das Kinn herunter, was als Tropfenkinn bezeichnet wird. Passives Unterfüttern der Lippen durch zahnprothetische Mittel verbessert die Muskelansätze und damit die Muskelzugrichtungen nicht. Durch knöcherne Regeneration der Alveolarfortsätze kann wieder ein Zustand wie vor dem Zahnverlust erzeugt werden. c. Durch implantatgestützte Zahnprothesen kann im Gegensatz zu konventionellen Vollprothesen eine bessere Vorspannung der mimischen Muskeln erreicht werden, weil diese sich bei Gegenzug der Lippen nicht so leicht lösen wie konventionelle Totalprothesen. Wenn zusätzlich die Alveolarfortsätze durch Augmentation knöchern rekonstruiert werden, bekommen die mimischen Muskeln wieder ihre korrekten Ansatzpunkte. Zusätzlich kann durch Bisshebung eine Streckung des Untergesichts und eine Rücknahme des Kinns erreicht werden, sodass sich die Nasolabial- und Supramentalfalte glättet. Das Ziel ist ein entspannter und jüngerer Gesichtsausdruck als Nebeneffekt einer kaufunktionellen Rehabilitation (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle, Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).
Durch den Schwund ihrer knöchernen Ansatzstellen am zahntragenden Alveolarfortsatz verlieren die perioralen mimischen Muskeln ihre Vorspannung. Die Lippen rollen sich ein und verschmälern sich. Wegen des Wegfalls der Stütze der Zähne und Alveolarfortsätze fallen Wangen und Lippe ein. Infolge der Bissabsenkung entwickelt sich eine negative Mundspaltenrundung (umgekehrter Smiley) und es kann zur Lippeninkontinenz an den Mundwinkeln mit Speicheltröpfeln und Candidabefall kommen. Der Musculus mentalis verliert zunehmend seinen Ansatz am vorderen Alveolarfortsatz und das Kinn kann tropfenartig herunterhängen, das sogenannte Tropfenkinn bildet sich. Insgesamt entsteht so das stigmatisierende typische Untergesicht des zahnlosen Greises. Die nachlassende Kaufähigkeit bedingt häufig eine Nahrungsumstellung auf diabetogene Kost und ist mit dem verfrühten Eintritt von Demenz statistisch korreliert5, ohne dass ein ursächlicher Zusammenhang bewiesen ist. Die schwere Alveolarkammatrophie ist also keine simple Alterserscheinung, sondern ein pathologischer Zustand mit Folgen für den Gesamtorganismus. Die kaufunktionelle Rehabilitation durch Zahnimplantate verfolgt ein allgemeinmedizinisches Ziel.
1.4Klassifikationen der Alveolarkammatrophie
Die Atrophie der zahnlosen Kiefer insgesamt wird am besten durch die internationale Klassifikation nach Cawood und Howell (1991) beschrieben6(Abb. 1-10).
Abb. 1-10 Die Klassifikation der Alveolarfortsatzatrophie des zahnlosen Gesamtkiefers nach Cawood und Howell6 (modifiziert nach Cawood JI, in: Härle F. Atlas of Craniomaxillofacial Osteosynthesesis, Thieme, Stuttgart 1999).
Das Resorptionsstadium des einzelnen Implantatsitus kann durch die Viertelregel nach Terheyden 20107,8 (Abb. 1-11) klassifiziert werden. Diese Klassifikation basiert auf dem typischen Muster der Resorption des Alveolarfortsatzes nach Zahnextraktion und hat den Vorteil, dass den Stadien jeweils passende Behandlungsmethoden zugeordnet werden können (Kapitel 12).
Abb. 1-11 Klassifikation der Resorptionsstadien des Kiefers im Implantatsitus nach Terheyden7 in Viertelstadien.
Zunächst atrophiert im Regelfall die faziale Alveolenwand. Wenn deren obere Hälfte geschwunden ist, kann noch ein Implantat primär stabil gesetzt werden, aber es liegt ein vestibulärer Dehiszenzdefekt vor (erstes Viertel). Bei weiterer Atrophie wird die gesamte bukkale Wand resorbiert und es ergibt sich ein Spitzkamm (zweites Viertel) bei noch stehender oraler Wand (entspricht Cawood-Klasse IV). In diesem Stadium reicht der Knochen in der Regel nicht mehr, um ein Implantat zu stabilisieren, sodass man zweizeitig augmentieren muss. Als nächstes Stadium entsteht eine Höhenreduktion des Kamms insgesamt, aber die orale Wand steht noch teilweise (drittes Viertel), bis am Ende der Alveolarfortsatz vollständig resorbiert ist (viertes Viertel) (entspricht Cawood-Klasse V).
Diese Betrachtung im Querschnitt des einzelnen Implantatsitus sollte noch durch die Längsbetrachtung des zahnlosen Abschnitts in Form des sogenannten Envelopes (Abb. 1-12) ergänzt werden. Der Begriff des „Alveolar bone envelope“ ist ein feststehender Sprachgebrauch ursprünglich aus der kieferorthopädischen und parodontologischen Literatur9 und beschreibt die bukkale Konturverbindungslinie des Alveolarknochens im Zahnbogen. Wenn in einer Einzelzahnlücke intakte Nachbarparodontien vorliegen spricht man von einem umschlossenen Defekt innerhalb des Envelopes (Einzel- oder Doppelzahnlücke mit intakten Nachbarparodontien). Die Situation wird schwieriger bei längeren Lücken oder Lücken ohne Nachbarparodontien mit schlecht definiertem Envelope oder im zahnlosen Kiefer mit undefiniertem Envelope.
Abb. 1-12 a. Für die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation ist die Lage im Envelope wichtig (Konturverbindungslinie des Zahnbogens). Zweitens ist es für den Erfolg günstig, wenn ein Defekt von knöchernen Wänden umschlossen ist (contained defect). b. Die Erfolgsaussichten einer lokalisierten Augmentation steigen, wenn das Augmentationsvolumen innerhalb des Envelopes liegt. Daher sollte das Implantat im Regelfall an die palatinale/linguale Wand gesetzt werden und nicht zu groß im Durchmesser gewählt werden.
1.5Alternativen zur Alveolarkammaugmentation
Augmentationschirurgie hat immer einen Preis, auch in Form von Operationsbelastung, Beschwerden und Kosten für den Patienten, operativer Komplexität für Zahnärzte und ihre Teams sowie durch erhöhte Komplikationsmöglichkeiten. Risiko und Nutzen der Augmentationschirurgie sollten immer gut kommuniziert und abgewogen werden. Es gibt daher viele Bemühungen, die operative Belastung der Knochenaugmentation durch Alternativen und minimalinvasive Techniken zu reduzieren.
Insgesamt zeigt sich in der Implantologie die Entwicklung, gestützt durch neue Materialien, auch ohne augmentative Maßnahmen eine gute Kaufunktion zu erreichen. Besondere Relevanz hat dies für Patienten unter antiresorptiven Therapien, die gar keine Knochenaugmentationschirurgie erlauben. Des Weiteren wird der Therapieerfolg weniger abhängig vom individuellen Können eines Arztes gemacht, was ein genereller Trend in der Medizin ist. Beispiele für die augmentationsfreie Implantatchirurgie sind Zygomaimplantate oder die Renaissance der Subperiostalimplantate bei schwerer Alveolarkammatrophie (siehe Kapitel 14).