Bewegung erzeugt nach Newton eine Gegenbewegung (actio = reactio). Viele Patienten und Zahnärzte sind heute nicht mehr nur mit der Osseointegration eines Implantates an beliebiger Stelle zur reinen Fixierung einer Deckprothese zufrieden, sondern das Implantat wird an der funktionellen und ästhetischen Idealposition erwartet. Ein defektprothetischer Ansatz in der Implantologie kann von einem regenerativen Therapieansatz differenziert werden, wodurch zwei Polarisierungen eines Kontinuums der Optionen beschrieben sind (Abb. 1-13).
Abb. 1-13 Defektprothetik versus Regeneration.
Beim defektprothetischen Ansatz wird fehlendes Gewebe und fehlende Funktion durch Fremdmaterial, eine Prothese aus Kunststoff, Keramik und Metall ersetzt, ähnlich wie eine Prothese bei fehlenden Gliedmaßen. Das Zahnimplantat ist bei diesem Therapieansatz ein Halteanker gegen das Herausfallen der Prothese. Weil das Implantat durch die Gefahr biologischer Komplikationen auch ein Risikofaktor für die Gesamtprothese ist, werden konsequenterweise so wenig wie möglich Implantate als potenzielle Störstellen geplant, bis hin zu nur einem einzigen. Der Patient kann sich in dieser Logik in seinen Hygienebemühungen auf einige wenige Pfosten konzentrieren und weniger Implantate werfen weniger Kosten auf.
Der Ersatz fehlender Körperteile durch eine Prothese ist in vielen medizinischen Feldern das herkömmliche Verfahren; im regenerativen Ansatz der Augmentation wird die Zukunft gesehen10. Dieser Ansatz verfolgt weitergehende Ziele als den reinen Prothesenhalt, unter anderem eine funktionell und biologisch vollwertige Regeneration des fehlenden Gewebes durch körpereigenes Material und eine langfristige, wenn nicht lebenslange Prognose von Implantaten. Im regenerativen Ersatz hat das Implantat mehr die Funktion einer Zahnwurzel zur Einleitung der Kaukräfte in den Kiefer. Erst die eingeleiteten Kaukräfte setzen den funktionellen Umbau der Gewebe in Gang, der ihren lebenslangen Erhalt sichert. Im Körper wird nur das erhalten, was funktionell definiert ist. Daher besteht bei diesem Ansatz auch eher die Tendenz zu einer höheren Zahl von Zahnimplantaten bis hin zum Einzelzahnersatz. In diesem Konzept geht es um einen zierlichen reduzierten Zahnersatz bis hin zu Einzelkronen mit wenig Metall und anderen Fremdmaterialien, fast ein Ansatz wie in der konservierenden Zahnheilkunde.
In der Praxis relativiert sich diese Diskussion zwischen beiden Therapieansätzen meistens schon durch das Alter der Patienten, indem Jüngere und Gesunde sich eher für den regenerativen und Ältere und Kranke eher für den defektprothetischen Ansatz qualifizieren. Das hängt mit der körperlichen Belastbarkeit, der Nutzungsdauer, der Ausgangslage der Defekte, der Hygienefähigkeit und der gewünschten Kaufunktion zusammen.
1.7Weichgewebeaugmentation und Weichgewebemanagement
Aus didaktischen Gründen werden die Knochenaugmentation und die Weichgewebeaugmentation häufig in getrennten Vorträgen und Lehrbüchern behandelt. In der klinischen Praxis ist diese Trennung schwer möglich. Dieses Buch möchte einen gemeinsamen Weg gehen, denn für eine gute Implantatprognose wird eine Dicke der befestigten Gingiva von 3 mm11 und Breite der Keratinisierung von 2 mm12 benötigt, die den Dimensionen der biologischen Breite entspricht. Auch heilen Knochentransplantate unter dicken Weichgeweben besser als unter dünnen und werden weniger resorbiert. Einen Teil der Ziele der Knochenaugmentation, wie z. B. das Verhindern des grauen Durchschimmerns des Titans (Abb. 1-14), kann man zwar auch durch Weichgewebetransplantate erreichen, aber deren Langzeitstabilität13 ist mit 1- bis 3-Jahres-Daten nicht so gut wissenschaftlich dokumentiert wie beim Knochen, für den in der gleichen Indikation 10-Jahres-Daten vorliegen14. Die Weichgewebe dürfen aber auch nicht zu hoch sein oder überaugmentiert werden, um eine Bildung von Pseudotaschen als Raum für eine pathogene Taschenflora zu vermeiden. Schließlich wird eine Knochenaugmentation nur dann verlustfrei heilen, wenn die Weichgewebewunde darüber zuverlässig abheilt. Ein gutes Weichgewebemanagement ist daher ein untrennbarer Teil und Grundvoraussetzung der Augmentationschirurgie (siehe Kapitel 7).
Abb. 1-14 Durchschimmern des Titans.
1.8Risikomanagement SAC-Klassifikation
Augmentationsoperationen haben im Regelfall einen erhöhten Schwierigkeitsgrad gegenüber der einfachen Implantation und gehören in die Gruppen A und C der SAC-Klassifikation15 (Abb. 1-15). Augmentationsoperationen stellen erhöhte Anforderungen an die Ausbildung und Ausstattung des Operateurs als Implantatoperationen des S-Levels.
Abb. 1-15 Die SAC-Klassifikation des International Team for Implantology15 (ITI) für den chirurgischen und prothetischen Teil einer Implantatbehandlung.
Straightforward: Keine Augmentation. Dies entspricht einer Standardbehandlung ohne erhöhte anatomische Risiken operationstechnische und/oder prothetische Probleme.
Advanced: Einzeitige Augmentation. Noch genug Restknochen für eine simultane Implantatinsertion.Hier ist eine anspruchsvolle Behandlung mit erhöhtem chirurgischen und/oder prothetischen Risikopotential und entsprechender Ausstattungs- und Ausbildungsanforderung an das Team gemeint.
Complex: Zweizeitige Augmentation. Nicht genug Knochen für eine gleichzeitige Implantation. Eine komplexe implantologische Behandlung auf Spezialistenniveau mit damit verbundenen Risiken ist erforderlich.
Wegen der Belastung und der Risiken eines operativen Eingriffs entscheiden sich viele Patienten und Kollegen bei Knochenmangel gegen eine implantologische Behandlung, obwohl vielleicht beide Seiten von einem osseointegrierten Zahnersatz profitieren würden. Durch Zusammenarbeit mit chirurgisch spezialisierten Kollegen mit entsprechender Expertise kann diese Schwelle gesenkt werden. Die mit der Wundheilung verbundenen Unannehmlichkeiten können von einem überweisenden Zahnarzt zeitweise zum Chirurgen ausgegliedert werden. Die anschließende prothetische Behandlung wird wieder in der Heimatpraxis durchgeführt. In so einem Team funktioniert der Hauszahnarzt als Architekt der Gesamtbehandlung, der die einzelnen Gewerke koordiniert und den Patienten danach in seiner Betreuung weiterführt.
1Härle F. Atlas der präprothetischen Operationen. Hanser: München, 1989.
2Schwarz F, Sahm N, Becker J. Impact of the outcome of guided bone regeneration in dehiscence-type defects on the long-term stability of peri-implant health: clinical observations at 4 years. Clin Oral Implants Res 2012;23:191–196.
3Iglhaut G, Schwarz F, Winter RR, Mihatovic I, Stimmelmayr M, Schliephake H. Epithelial attachment and downgrowth