Hans-Dieter Mutschler

Halbierte Wirklichkeit


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Geschlossenheit der Welt (im Folgenden öfters kurz das Kausalprinzip genannt). All diese Prinzipien werden aus der Naturwissenschaft abgeleitet oder jedenfalls gibt der Materialismus vor, sie aus ihnen abgeleitet zu haben. Auf diese Art legitimiert sich die materialistische Weltanschauung mit der Hilfe und dem Gewicht der besten Wissenschaften, die wir haben. Es wird sich jedoch zeigen, dass all diese Prinzipien keine zwingende Konsequenz aus der Naturwissenschaft sein können. Oft genug handelt es sich um argumentativ nicht abgestützte Extrapolationen, manchmal auch nur um Projektionen lebensweltlicher Erfahrung in ein dazu fremdes Gebiet. In solchen Fällen macht der Materialist Gebrauch von einer nichtmaterialistischen Ontologie, wodurch er in einen Selbstwiderspruch hinein gerät.

      Die Überlegungen des zweiten Kapitels zum Verhältnis von Wissenschaft und Lebenswelt sollten die Überlegungen dieses dritten Kapitels vorbereitet haben. Es gibt nämlich eine wenig beachtete Dialektik zwischen Wissenschaft und Lebenswelt, die nicht nur darauf beruht, dass die Lebenswelt unhintergehbarer Ausgangspunkt aller wissenschaftlichen Bemühungen ist (woher sollte der Wissenschaftler sonst sein Objekt nehmen?). Es ist auch umgekehrt so, dass wir die Ergebnisse der Wissenschaft post festum einer lebensweltlichen Interpretation unterziehen, weil wir sie sonst gar nicht verstehen könnten. Physiker, Biologen und Chemiker unterhalten sich über die Ergebnisse ihrer Wissenschaft in der ganz gewöhnlichen Alltagssprache. Der Physiker Richard Feynman träumte sogar von einer Physik, die ganz auf die Mathematik verzichten würde!10

      Um einige einfache Beispiele dieser kaum verstandenen Dialektik zwischen Wissenschaft und Lebenswelt vorwegzunehmen: Newton übersetzte in den „Principia“ seine Einsichten durchweg in ganz konkrete Vorstellungen aus der Alltagswelt. So illustrierte er z. B. „Kraft = Masse mal Beschleunigung“, also sein zweites Axiom, mit Hilfe eines Wagens einer bestimmten Masse, der vom Menschen angeschoben oder von einem Tier gezogen wird. Dadurch üben wir eine Kraftwirkung aus und der Wagen wird beschleunigt.

      Dies ist eine hübsche Ausdeutung der Formel F = ma, aber man sieht schon an diesem einfachen Beispiel, dass solche lebensweltlichen Interpretationen über den physikalischen Sachverhalt hinausgehen. Newton beschreibt nämlich den entsprechenden Sachverhalt kausal: Die Kraft ist die Ursache, die Beschleunigung die Wirkung. Nun ist aber die Kausalrelation asymmetrisch, denn wenn A Ursache von B ist, ist B niemals Ursache von A, die Formel F = ma ist aber symmetrisch. Wir haben also den wissenschaftlichen Sachverhalt überinterpretiert. Weil nun Newton alle Kräfte kausal deutet, bezieht er diese Interpretation auch auf sein drittes Axiom „actio = reactio“. Seine Beispiele sind auch hier das Eingreifen des Menschen in den Naturzusammenhang: Ich drücke auf eine Tischplatte mit der Kraft F und die Tischplatte drückt wieder gegen meinen Daumen mit der entgegengesetzten Kraft – F. Aber auch hier haben wir die Situation, dass die lebensweltliche Interpretation mehr sagt als die Theorie, denn hier ist der Daumen aktiv, die Tischplatte passiv. Diese Asymmetrie kommt in der Formel F12 = – F21 nicht vor, es lassen sich nämlich F12 und F21 vertauschen, ohne dass sich an dem mathematischen Zusammenhang irgendetwas ändert. Es scheint uns ganz natürlich zu sein, die Entdeckungen der Wissenschaft post festum wieder ins praktisch bestimmte Verständnis der Alltagswelt rückzuübersetzen, so dass wir diese Rückübersetzung als solche gar nicht mehr wahrnehmen und mit der eigentlichen Wissenschaft verwechseln. Wir glauben also dort noch Wissenschaft zu treiben, wo wir längst in das praktisch bestimmte Gebiet unserer Lebenswelt zurück gesprungen sind.

      Ein weiteres Beispiel aus der neueren Physik: Seit den 1960er-Jahren konnten die Physiker erstmals Phänomene der spontanen Strukturentstehung in der Natur berechnen und dies im Rahmen der neu entwickelten Selbstorganisationstheorie, die sich auf offene Systeme bezog, also solche, die von Materie und/oder Energie durchflossen werden (alle Lebewesen sind ein solches offenes System). Dabei traten völlig neue Erscheinungen zutage, wie z. B. die, dass sich diese Systeme deterministisch entwickelten, aber nur bis zu gewissen sensiblen Punkten, wo sie sich unvorhersehbar verzweigten, nämlich den sogenannten „Bifurkationspunkten“. Solche nichtantizipierbaren Kontingenzpunkte sind dann oft die Initialzündung zu spontaner Strukturentstehung. Der Biophysiker Ilya Prigogine erhielt den Nobelpreis für diese Entdeckung. Er beließ es aber nicht bei der exakten Theorie, sondern er interpretierte seine Theorie sofort in lebensweltlichen Vorstellungen, so etwa in seinem Buch „Dialog mit der Natur“. Dort projizierte er alle möglichen lebenspraktischen Vorstellungen in seine Physik hinein, sprach etwa davon, dass die Bifurkationspunkte ein Ort der „Spontaneität“ oder sogar der „Geschichtlichkeit“ der Natur seien, dass darin die Aristotelische „physis“ wiederentdeckt werden könne und was der Überfrachtungen mehr sind.

      Andere haben solche Überinterpretationen auf die Spitze getrieben, wie z. B. der Physiker Paul Davies. In seinem Buch über die Chaostheorie macht er einen Urgegensatz auf. Danach beschreibt der II. Hauptsatz der Thermodynamik, also der Entropiesatz, die Zerstörung von Struktur und er nennt ihn deshalb den „pessimistischen Pfeil“ des Universums, während die spontane Strukturentstehung, beschrieben durch die Selbstorganisationstheorie, der „optimistische Pfeil“ sei und all dies sei, so meint er, objektive Wissenschaft, nämlich bloße Physik.11 Man sieht aber, dass das nicht der Fall sein kann. Optimismus und Pessimismus sind keine Begriffe der Physik, sondern Begriffe menschlicher Grundhaltungen. Weil wir hochkomplexe Wesen sind und weil wir unser Wohlergehen schätzen, während Krankheit und Tod zu einer Minderung oder Zerstörung dieser Qualitäten führen, werten wir spontan solche Ergebnisse der Wissenschaft und fügen sie ein in den Kosmos unseres lebensweltlichen Wissens und unseres Selbstverständnisses als menschliche Personen.

      Dagegen gibt es nichts zu sagen, solange man sich nicht vormacht, dass es bei diesen Interpretationen immer noch um strenge Wissenschaft geht. Das hat Newton spontan so gesehen und es scheint dort noch relativ harmlos. Bei Prigogine ist es schon weniger harmlos, weil er vorgibt, in seinem „Dialog mit der Natur“, die Kluft zwischen Natur- und Geisteswissenschaft von der Physik her zu überwinden, während Davies in einer früheren Publikation sogar den Anspruch stellte, die Religion auf diese Weise physikalisch wegerklären zu können. Ganz gefährlich wird es, wenn gewisse Neurowissenschaftler das Gehirn personifizieren und etwa davon sprechen, dass Gehirne (statt Menschen) miteinander kommunizieren, dass Gehirne (statt Menschen) etwas wollen usw.

      In all diesen Fällen bleiben wir nicht bei der Wissenschaft stehen, sondern wir reichern sie in einem Prozess der unbewussten Rückprojektion mit Inhalten aus unserer praktischen Lebenswelt an, tun aber immer noch so, als befänden wir uns auf dem Niveau der exakten Forschung. Dann gerät uns plötzlich die Physik zum alles erklärenden Schema, die Neurowissenschaft ersetzt Personalität und es entsteht eine monistisch-materialistische Weltanschauung, die wie eine giftige Blase aus einem schlechten Magen emporsteigt, der die verwirrende Vielheit der postmodernen Bezüge nicht verdauen kann. Vielleicht kann man wirklich nicht, aber dann wäre es ehrlicher zuzugestehen, dass uns die heterogene, zentrifugale Vielfältigkeit der modernen Welt intellektuell überfordert, anstatt dass wir uns an den Busen des All-Einen flüchten, wobei es rätselhaft bleibt, wie es kommt, dass die Nichtexistenz Gottes und die geliehene Allmacht der Materie dem Menschen Trost spenden. Aber wie der Mensch der höchsten Wahrheit fähig ist, so auch der radikalen Illusion.

      Der Vollständigkeit halber muss noch erwähnt werden, dass die vorliegende Arbeit zwar streng antinaturalistisch vorgeht, aber nur relativ zum szientifischen Naturalismus = Materialismus. Es gibt auch einen völlig anders gearteten Naturalismus, der sich verwirrenderweise genauso nennt, nämlich der pragmatische Naturalismus, wie man ihn z. B. bei John Dewey findet und wie er heute erneut Beachtung erfährt, so z. B. auch in der pragmatischen Wissenschaftstheorie eines Baas van Fraassen. All diese Autoren nehmen die Lebenswelt sehr ernst und gründen ihre Philosophie auf den praktischen Umgang des Menschen mit seinesgleichen und mit der Natur. Solche philosophischen Ansätze sind hier nicht zu kritisieren, die hier vorgestellten Überlegungen beruhen vielmehr zum guten Teil auf ihnen. Dieses Buch handelt ausschließlich vom szientifischen Naturalismus, den wir aber künftig Materialismus nennen werden.

      Es versteht sich, dass der Materialismus dieses Prinzip als gültig voraussetzen muss. Gleichwohl fällt auf, dass sich die Materialisten keine sonderlich große Mühe geben, diesen ihren