und Masse (oder Materie) ein Oberflächenphänomen, d. h. eine bloße Erscheinung, und man könnte aus diesem Zusammenhang spiritualistische Schlussfolgerungen ziehen, wie es die New-Age-Physiker getan haben.13 Aber die Physik spricht nicht vom Zugrundeliegenden, d. h. vom ontologischen Substrat, denn die Gleichung E = mc2 ist symmetrisch, das Substanz-Akzidenz-Verhältnis aber nicht. Aus diesem Grund gibt es nicht nur den Fall, dass Masse in Energie zerstrahlt, wie bei einer Atomexplosion, es gibt auch den umgekehrten Fall, dass Energie sich zu Teilchen verdichtet, wie bei gewissen Experimenten im Hochenergiebeschleuniger. Die mathematische Sprache setzt also Größen zueinander ins Verhältnis, deren ontologische Grundlage unbestimmt bleibt. Und wie in den mathematischen Formeln die Asymmetrie der Kausalrelation fehlt, so fehlt in ihr die hierarchische Unterordnung der Eigenschaften unter die Kategorie der Substanz als dem Zugrundeliegenden.
Die Größen, die die mathematische Physik zueinander ins Verhältnis setzt, sind also wie ein Spinnennetz, das nirgendwo festgemacht ist oder vielmehr: Wenn man wissen will, wo es festgemacht ist, muss man aus dem Netz heraustreten, also die Physik verlassen. Spinnennetze sind nicht an Spinnennetzen festgemacht, während die Alltagssprache auf die Dinge selbst referiert. Technisch drückt man das so aus, dass nur die Alltagssprache, nicht aber die Mathematik Indexicals kennt, also Ausdrücke wie ich, du, hier, jetzt, die alle auf etwas Konkretes hindeuten. Nun könnte man argumentieren, dass das Experiment die Fixpunkte enthält, an denen das Netz mathematischer Begriffe angeheftet ist. Aber das Experiment liefert zunächst nur Zahlenwerte, die ebenfalls keine substanziellen Größen sind. Wir müssen schon aus dem quantitativ bestimmten Geflecht mathematischer Begriffe heraustreten und mit lebensweltlichem Blick und in der natürlichen Sprache die Objekte beschreiben, auf die sich die Theorie bezieht. Das funktioniert in der klassischen Physik Newtons noch leidlich und deshalb konnte er seine Principia mit lebensweltlichen Beispielen anreichern, aber heute, wo Teilchen nur noch abstrakte Zustände relativistisch beschriebener, quantisierter Felder sind und wo die Beobachtung nur noch ganz abstrakt durch riesige Beschleunigermaschinen vermittelt wird, steht uns dieser Ausweg nicht mehr zur Verfügung. Denn die irrige Meinung, die Wissenschaft beziehe sich direkt auf unsere Lebenswelt, konnte nur entstehen, weil dieses Herausspringen in der Newton’schen Physik noch relativ leicht vonstatten ging. Daher konnte Newton in den Principia meist mit der natürlichen Sprache arbeiten, obwohl sich gezeigt hat, dass das eigentlich auch hier schon unangemessen war und deshalb stellt man die klassische Physik in den neueren Lehrbüchern ganz anders und viel abstrakter dar und die Professoren warnen zu Recht vor lebensweltlichen Interpretationen. In der Physik sind sie in der Tat fehl am Platze.
Heute aber, wo die Mikro- und Makroobjekte uns gar nicht mehr in natürlicher Einstellung gegeben sind, haben wir sozusagen nur noch das Spinnennetz mathematischer Begriffe und von vornherein keinen direkten Zugang mehr zu den zugrundeliegenden Objekten. Dagegen hat der Wissenschaftshistoriker Max Jammer versucht, den Begriff der Materie rein innerwissenschaftlich zu bestimmen, indem er die Geschichte des Massenbegriffs in der Physik nachzeichnete, denn auch er identifizierte Masse und Materie. Seine Untersuchung blieb ohne Ergebnis und so ist das bis heute und wohl nicht ohne tieferen Grund. Man begegnet dieser Paradoxie selbst noch in den neuesten Publikationen. So gab z. B. der Physiker und Philosoph Michael Esfeld vor kurzem einen Sammelband heraus mit dem Titel „Philosophie der Physik“, der sich auf die avanciertesten Theorien, vor allem auf die Quantenfeldtheorie, bezieht. In diesem Band schreiben die besten Fachgelehrten im deutschen Sprachraum, aber sie können sich nicht einigen, was das ontologische Substrat der Physik sei.
Das Problem entsteht schon dann, wenn man sich vor Augen führt, dass ein und derselbe Zusammenhang mathematisch ganz verschieden ausgedrückt werden kann. So kann man z. B. die Erhaltungssätze zugleich als Symmetrieprinzipien formulieren. Es ist z. B. die Translationssymmetrie äquivalent zur Erhaltung des Impulses, die Homogenität der Zeit zum Energieerhaltungssatz, die Isotropie des Raumes zum Satz von der Erhaltung des Drehimpulses usw. Wir haben aber eine ganz verschiedene ontologische Vorstellung, wenn wir die Natur durch Erhaltungssätze charakterisieren als durch Symmetrieprinzipien. Auf diese Art kann man in der Quantenfeldtheorie den Partikel- oder den Feldbegriff in den Mittelpunkt stellen, ohne dass sich an der Theorie etwas ändert. Wohl aber ändern sich dabei die ontologischen Vorstellungen von dem, was real ist. Das heißt aber, dass die Ontologie der Physik eine höchst problematische Angelegenheit darstellt. Niemand weiß offenbar, wo das Spinnennetz der physikalischen Begriffe festgemacht wird.
Die größten Probleme für eine Ontologie der Physik entstehen also dadurch, dass sie eigentlich nur Relationen oder Strukturen kennt. Die sogenannten Strukturalisten ontologisieren diese mathematischen Gebilde selbst, d. h. sie machen aus der Not eine Tugend oder im Vergleich gesprochen, sie behaupten, dass die Realität überhaupt nur aus Spinnennetzen besteht, die frei in der Luft schweben. Dieser Strukturalismus kommt in einer starken und in einer schwachen Version vor. In der starken werden die Strukturen direkt ontologisiert und mit Platonischen Ideen verglichen, die an sich existieren. In der schwachen Variante glaubt man, dass die Strukturen nur in der Materie realisiert sind, also nicht als solche existieren. Allerdings müsste es in beiden Fällen Relationen ohne Relate geben, eine merkwürdige Vorstellung. Können wir uns eine Vaterschaft ohne Vater und Sohn vorstellen? Esfeld lehnt daher beide Sorten Strukturalismus ab und entwickelt einen, wie er es nennt, „ontischen Strukturenrealismus“, der als Relate der mathematischen Relationen Raum-Zeit-Punkte ansetzt, die aber keine intrinsischen Eigenschaften haben sollen, weil die Quantentheorie keine solchen intrinsischen Eigenschaften kennt, sondern nur relationale.14 Dies erscheint ebenfalls wie eine philosophische Verzweiflungstat. Können ausdehnungslose Punkte wirklich existieren? Sind sie mehr als bloße Gedankendinge? Können wir uns ein ontologisches Substrat ohne intrinsische Eigenschaften überhaupt vorstellen? Und sollten wir dann nicht ehrlicher mit Kant zugestehen, dass uns das Ding-an-sich unerkennbar bleibt? Es scheint also, dass Kant schon vor über 200 Jahren gesehen hat, dass die Physik aus sich keine eigentliche Ontologie rechtfertigt. Daher seine These, wonach das Ding-an-sich unerkennbar sei. Das ist für die Physik durchaus einsichtig (sonst eher nicht).
Da die Quantenfeldtheorie die Differenz zwischen Partikel und Feld zum Verschwinden bringt, entwickeln wiederum andere eine sogenannte Tropenontologie. Hier setzt man individuelle, substratlose Eigenschaften als das eigentlich Existierende, und Partikel wären dann bloße Tropenbündel. Aber man handelt sich auf diese Art die Probleme aller Bündeltheorien ein, über die schon gesprochen wurde. Ferner: Läuft diese Tropenontologie nicht einfach darauf hinaus, die Tatsache zu ontologisieren, dass sich die Physik nur auf Eigenschaften, nicht aber auf das den Eigenschaften zugrundeliegende Substrat bezieht? Können wir uns Eigenschaften ohne Eigenschaftsträger überhaupt vorstellen? Ist das nicht wieder ein ähnlicher Fall wie der der Strukturenrealisten, die ebenfalls einfach darauf verzichten, ein ontologisch Zugrundeliegendes zu bestimmen? Wiederum andere, nämlich die sogenannten Super-Substantialisten setzen allein die Raumzeit als das Reale und das allem Zugrundeliegende.
Wie dem auch sei, festzuhalten bleibt: Selbst die besten Fachleute können sich nicht einigen, was die Ontologie der Physik sein soll und vor allem identifiziert kein einziger von ihnen das ontologische Substrat der Physik mit der Materie! Aber das müsste doch geschehen, wenn der Materialismus wahr sein sollte und wenn die Physik zuständig wäre für den Materiebegriff! Dann müssten doch die Physiker hinabzoomen können in die Tiefen der Natur, um ein letztes Substrat, genannt Materie zu finden, auf dem dann alles aufruht. Aber sie finden dort offenbar nichts Bestimmtes, sondern lediglich das Unbestimmte, eine Einsicht, die Aristoteles vor über 2000 Jahren vorweggenommen hat, als er die prima materia als das Unbestimmte bezeichnete.
Es sollte aber darauf hingewiesen werden, dass diese ontologische Unbestimmtheit ein spezifisches Problem der Physik ist, zu der es wohl keine Entsprechung in den anderen Wissenschaften gibt. Einmal deshalb, weil wir in diesen anderen Wissenschaften zumeist mit der natürlichen Sprache arbeiten. Des Weiteren ist es zwar der Fall, dass wir die Objekte der Mikrobiologie genauso wenig sehen können wie die der Mikrophysik, der Unterschied ist aber dieser: Während uns die Gene in lebensweltlicher Erfahrung zwar nicht gegeben sind, sind die Organismen, die sie enthalten, in der Regel in Raum und Zeit klar identifizierbar. Die meisten Tiere, Pilze oder Pflanzen können wir sehen. In der Biologie stellt sich daher das Ontologieproblem auf eine ganz andere