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Theologie im Umbruch


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Eingang |45| programmatisch die «Unerledigten Anfragen» Overbecks stehen, nur mit der ausdrücklichen Weisung ausgestellt: «Das sollen Sie aber nicht lesen, Sie sollen die Kirchliche Dogmatik lesen!»107 Doch eben in der letzten Vorlesung zur «Kirchlichen Dogmatik» von 1961 steht – im Zusammenhang einer nachdrücklichen Berufung auf das für Barth entscheidende Reich-Gottes-Verständnis der beiden Blumhardts – die ausdrückliche Bekräftigung des Bildes, das emblematisch die Prägung der Theologie Barths in der Phase des zweiten «Römerbriefes» ausdrückt: «Ich würde aber noch jetzt und vielleicht mit noch grösserer Bestimmtheit [sc. als 1920] sagen», man müsse Overbeck, «um ihn recht zu würdigen, gleichsam Rücken an Rücken mit seinem Zeitgenossen, dem jüngeren Blumhardt, sehen»108, worin doch eingeschlossen ist: den jüngeren Blumhardt Rücken an Rücken mit Overbeck! Es wäre also auch zu fragen: Gibt es ein sachliches Kontinuum zwischen 1920 und 1961? Aber diese Fragen sind nun wirklich Sache einer determinatio magistri!109 |46|

      Manuskript «Sozialismus und Kirche»

       (Originalgrösse 11,7 × 12 cm) |47|

      Transkription

      Sozialismus u. Kirche

      Warum als Soz[ialist] Pfarrer?, mehr Pf[arrer] als Soz.! //

      Leben im Soz[ialismus]

      a) wen klagen wir ein[?]? N[euer] Mensch //

      b) mit was kämpfen wir? N[euer] Geist //

      c) was wollen wir? N[eue] Welt //

      Gerade das Unausgesprochene ist das Wesen d. Soz.: die //

      grosse Not u. Sehnsucht d. M[enschen] dem Unendlichen gegenüber. //

      Hinter u. über dem Programm wäre von der Bibel zu reden

      _____

      Warum als Pf[arrer] Soz[ialist]? auch Soz. wenigstens! //

      Weil die Bibel entleert worden ist //

      a) zu einseitig geistig Leiblichkeit //

      b) zu moralisch Gerechtigkeit G[otte]s //

      c) zu wenig radikal Jenseits //

      Die Kirche hat da viel versäumt, auch die Ref[ormation]. Hier ist //

      mehr als Soz[ialismus]. Christen gesucht, die für den Leib[?] empfinden

      |48|

      Manuskript «Krieg, Sozialismus und Christentum», S. 1

       (Originalgrösse 11 × 18)

      |49|

      Fragment auf der Rückseite von «Sozialismus und Kirche»

       (Originalgrösse 18 × 5 cm)

      Transkription

      Beziehung[?] auch in der ersten Zeit, wo wir noch[?] daran denken oder in der zweiten Zeit, wo wir nicht daran [denken wollen?]. //

      Aber nichtwahr, wir wissen Alle auch etwas von der dritten Zeit, wo wir daran denken müssen. Die gegenwärtige Zeit //

      aufs Ganze gesehen, ist jedenfalls dritte Zeit u wir sind darum ein so unruhiges, bewegtes, zerrissenes Geschlecht, //

      weil wir Alle an die Frage, die verborgen im Herzen der Menschen lebt, denken müssen. Wehe den M., die in der dritten //

      Zeit heranwachsen! müsste man sagen, denn wir wissen: viel Sicherheit, viel Befriedigung, viel Gerechtigkeit ist dahin, //

      wenn die dritte Zeit, die Zeit der offenen, der brennenden Frage anbricht. Aber nichtwahr, wenn wir uns selbst recht //

      verstehen, dann wissen wir: nur da heissts umgekehrt gerade: wohl den M, denen die Augen aufgehen; denn //

      da fängt das Leben an. Das sind die M. in denen etwas offen u wach, sehnsüchtig u verlangend wird. Das //

      sind die M. die im Ernst nach Trost fragen. |50|

      Anfang der Predigt vom 26. Oktober 1919

       (Originalgrösse 18 × 11 cm)

      |51|

      Der Anfang des 20. Jahrhunderts und die Schweiz: Versuch einer historischen Situierung der Schriften von Karl Barth

      Regina Wecker

      Um die politischen Rahmenbedingungen und die Zeit näher zu bringen, in der Barth die jetzt in seinen «Vorträgen und kleineren Arbeiten 1914–1921» versammelten Texte verfasste, – und so möchte ich die Aufgabe dieses Beitrags verstehen – habe ich drei Ereignisse ausgewählt: die Landesausstellung 1914, das Fabrikgesetz von 1914/1920 und den Landesstreik 1918. Ereignisse von nationaler Bedeutung und Ausstrahlung, die unterschiedlicher nicht sein könnten und die zwar in kurzen Abständen, doch in völlig veränderter politischer Landschaft stattfinden. Sie sind Ausdruck der Zeit und ermöglichen einen Einblick in die politische Lage, aber auch in die Befindlichkeit der Schweiz. Die Auswahl von Fabrikgesetz und Landesstreik bedarf keiner weiteren Legitimation, sie gelten als wichtige Einschnitte der Schweizer Geschichte, und zudem hatte Barth sich mit beiden ausführlich auseinandergesetzt.110 Allerdings habe ich diese beiden Ereignisse doch eher aufgrund ihrer Aussagekraft für die Geschichte der Schweiz ausgewählt als in Bezug auf die vielfältigen Schriften von Barth. Die Landesausstellung hingegen dient mir als Folie und Gegenpol, als Ausdruck des politischen Klimas der Schweiz und der Präferenzen der Behörden bei politischen Entscheidungen.

      1. Landesausstellung 1914

      Landesaustellungen haben Tradition in der Schweiz.111 Nach der Zürcher und der Genfer Ausstellung 1883 und 1886 war die Ausstellung in Bern die |52| dritte ihrer Art. Das Ziel bestand gemäss den Vorstellungen des Bundesrates darin, «ein vollständiges Bild der Leistungen des Schweizervolkes» zu bieten. Damit war natürlich vor allem die Leistungsfähigkeit der Schweizer Industrie gemeint. Die Schweiz gehörte zu den am frühesten und am stärksten industrialisierten Ländern Europas: 1910 waren etwa 44 Prozent der Erwerbstätigen im industriellen Sektor tätig. Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hatte der Landwirtschaftssektor entsprechend an Bedeutung verloren und hatte nur noch gerade einen etwa gleich grossen Anteil wie der aufstrebende Dienstleistungssektor. Die Ikonographie der Ausstellung wies allerdings nicht auf die Bedeutung der Industrie hin: Das Plakat zeigt Reiter und Ross vor einer bäuerlich-idyllischen Landschaft, als Logo dient eine Ähre. Auch die Presse verwies weniger auf die Landesausstellung als Ort der Präsentation der wirtschaftlichen Leistung und der Innovationskraft der Schweiz. Vielmehr warb sie mit dem Charme der Schau, bei der ein traditionelles Unterhaltungsprogramm geboten werden sollte. Der Austragungsort war das «Dörfli» auf dem Berner Ausstellungsgelände, eine einheitliche architektonische Konzeption mit Kirche, aufgeteilt in reformierten und katholischen Teil.

      Die Ausstellung sollte ursprünglich schon 1913 auch als Feier der Eröffnung der Bern-Simplon-Lötschberg-Strecke der Eisenbahn dienen. Damit ist nun wiederum auf die Zielsetzung der Zelebrierung der technischen Errungenschaften hingewiesen: Der Ausbau des Schweizer Eisenbahnnetzes war für die Industrialisierung ein wichtiger Faktor. Allerdings hatte es beim Bau des Lötschbergtunnels einen folgenschweren Unfall mit 25 Toten gegeben, der zur Verzögerung der Eröffnung der Strecke führte und damit auch die Verschiebung der Ausstellungseröffnung auf 1914 nötig machte. Das war aber nicht das einzige Problem. Es hatte im Vorfeld der Ausstellung einige für Landesausstellungen ungewöhnlich scharfe Auseinandersetzungen gegeben, die deutlich auf Probleme der Schweiz in dieser Zeit hinweisen. Die Westschweizer hatten sich nicht