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Theologie im Umbruch


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1915 erwies sich als «Schlag an die Wand»54, wie Barth es selbstkritisch ausdrückte. Aber es ist doch deutlich, dass Barth in diesem Vortrag mit den zwei Sätzen «Welt ist Welt»55 und «Gott ist Gott»56 den Ausgangspunkt und den Ariadnefaden für die weitere theologische Arbeit gefunden hatte57, die sich offenbar nicht |35| zuletzt im Blick auf das sozialistische Engagement als notwendig erwies und die zu den programmatischen Vorträgen und Aufsätzen der Folgejahre und zu den beiden Auslegungen des Römerbriefes führte.

      Gerade im durchgängig polemisch gegen Wernle gerichteten und ganz im Gegensatz zu ihm entwickelten Vortrag «Kriegszeit und Gottesreich» macht Barth klar, dass alle anerkannten Wertinstanzen: Philosophie, Ethik, Staat, Sozialismus, Pazifismus und auch das Christentum, wie im Weltkrieg auf bittere Weise manifest wurde, deshalb keine überlegene schöpferische Position darbieten und eröffnen können, weil sie auf das Denken und Handeln im Gegensatz und in Gegensätzen fixiert sind und fixieren. Darin erweisen und vollziehen sie alle ihre sterile unfruchtbare Wahrheit: Welt ist Welt. Gott ist jedoch nicht aus einem Gegensatz zu begreifen, sondern nur aus seiner eigenen souveränen schöpferischen neuen Wirklichkeit: Gott ist Gott. Darauf kommt alles an, das ist die letzte Not und die letzte Aufgabe, dass wir uns unter und über und in allen Gegensätzen dem sich selbst setzenden, sich selbst beweisenden, d. h. sich selbst offenbarenden Ursprung zuwenden. Diese nicht leere, sondern in sich erfüllte, lebendige Tautologie «Gott ist Gott» erkennen und bekennen – das heisst: Glauben. Und «je wirklicher unser Glaube wird, desto weniger fragen wir überhaupt, wie wir uns morgen u. übermorgen halten sollen […]. Wir denken u. reden u. handeln dann einfach von Schritt zu Schritt so, wie wir müssen.»58

      Kein Zweifel: Hier hatte Barth, in wenige Sätze zusammengefasst, die Grundlage, den Quellpunkt gefunden, von dem aus nun eine neue Hermeneutik, Theologie und Ethik zu entwickeln waren, die gerade nicht zu einer «Apokalyptik schroffster dualistischer Art» gerieten, wie Wernle als Hörer des Vortrags meinte.59 Die «Vorträge und kleineren Arbeiten 1914–1921» dokumentieren, wie Barth diese Aufgabe Schritt für Schritt in Angriff genommen hat, obwohl er von solchen «Expeditionen» wie der Rede in Basel zunächst Abstand nehmen wollte.60 |36|

      V.

      Der erste dieser Schritte liegt im Vortrag «Die Gerechtigkeit Gottes» vom 16. Januar 1916 vor. Barth hat den Einsatz, den er hier beim Gewissen nimmt, später als verfehlt bezeichnet.61 Dennoch bleibt der Text ein eindrucksvolles Manifest dessen, worauf Barth nun – und man kann wohl sagen: für alle seine weitere theologische Arbeit – hinauswollte.62 Wenn wir glauben, d. h., wenn wir «still werden und Gott mit uns reden lassen», dann bekommt das Leben «seinen Sinn wieder, das Leben des Einzelnen und das Leben im Ganzen»:

      «Wirkliche Liebe, wirkliche Wahrhaftigkeit, wirklicher Fortschritt werden möglich, ja Moral und Kultur, Staat und Vaterland, sogar Religion und Kirche werden jetzt möglich, jetzt, erst jetzt! Eine weite Aussicht tut sich auf für die Zukunft.»63

      Mit diesen Bemerkungen werden manche Kontroversen der Folgejahre – insbesondere wichtige Punkte in der Barth-Harnack-Kontroverse von 1923 – von vornherein überholt. Ebenso bedeutsam erscheinen mir die Schlusssätze, weil sie den ja vorhin schon berührten Gedanken der unterschiedlichen Zeiten in der Geschichte Gottes mit den Menschen anschlagen, der Barth in allen Stadien seiner theologischen Arbeit grundlegend wichtig gewesen ist:

      «Es wird sich zeigen, ob die Erschütterung des Turmes von Babel, die wir jetzt durchmachen, stark genug ist, um uns dem Weg des Glaubens ein klein wenig näher zu bringen. Eine Gelegenheit dazu ist jetzt da. Es kann sein, dass es geschieht. Es kann aber auch sein, dass es nicht geschieht. Früher oder später wird es geschehen. Einen anderen Weg gibt es nicht.»64 |37|

      Noch bestimmter und konkreter ist dieser Gedanke der Unterscheidung der Zeiten in Barths Vortrag «Religion und Leben» vom 9. Oktober 1917 zu greifen. Barth führt da aus – und die Namen der unterschiedenen Zeiten sind hier nun ebenso wichtig wie diese Unterscheidung selber: Es hat «auch ganze Zeiten» gegeben: «Pauluszeiten, Franziskuszeiten, Lutherzeiten, wo es wie der Schimmer von einem grossen, allgemeinen Merken durch ganze Völker lief. Und es ist mir, gerade die heutige Zeit müsste nun eigentlich viele aufrichtige Menschen förmlich zwingen zum Merken und Merkenwollen.»65 Es wäre ein lohnender Gegenstand einer determinatio magistralis, darzulegen und «festzulegen», wie die Unterscheidung der Zeiten Barths Theologie im Ganzen sachlich und methodisch prägt. Videant magistri!

      Der Vortrag über «Religion und Leben» ist für uns aber auch deshalb besonders wichtig, weil hier der Schlüsselbegriff dieser Phase zentral entfaltet und in dem im Titel angedeuteten Gegensatz erhellt wird: der Begriff «Leben». Das Verhältnis von Religion und Leben wird als kontradiktorischer Gegensatz begriffen, wenn es heisst: «Der Fluch ist die völlige Lebensfremdheit dessen, was man Religion heisst. Die Erlösung ist das Leben selbst.»66 Damit ist freilich noch kein Ausweg aus der Aporie der Gegenwart gezeigt, sondern eine Aufgabe gestellt – die Aufgabe, darum zu ringen,

      «das Leben (das Leben in der Welt und das Leben in der Bibel!) selber erst zu sehen, zu verstehen, zu begreifen. Die Not der Welt so anzuschauen, dass ich davon reden kann als von meiner eigenen Not, und den Sieg und die Freude in der Bibel so, dass ich davon zeugen kann als Einer, der nicht nur davon gelesen, sondern der sie als Wahrheit gehört und gesehen hat.»67

      Mit der Aufgabe dieser «inneren Arbeit» ist jedoch auch schon die Verheissung verbunden: «Wir werden das Leben sehen, und wir werden dann auch einmal vom Leben zeugen dürfen.»68 Fast im Gestus der Propheten (Jes 9,1!) spricht Barth seinen Zuhörerinnen und Zuhörern Trost und Mut zu: «Ich sehe von weitem ein grosses Licht. Wir brauchen uns nicht zu fürchten.»69 |38|

      VI.

      In dem im gleichen Jahr 1917 zu Weihnachten erschienenen Predigtband von Barth und Thurneysen, der unter den sachlich höchst bezeichnenden Titel «Suchet Gott, so werdet ihr leben!» gestellt war, ist die zugleich «ontologische und axiologische Grundkategorie»70 «Leben» immer präsent, so wie sie dann auch durchgehend den ersten «Römerbrief» bestimmt, der zu Weihnachten 1918 herauskam. Allein im fünften Kapitel kommt dort Leben als Verb und als Substantiv mehr als 60-mal vor. In der Auslegung von Röm 5,1 schreibt Barth: «In Jesus ist die ursprüngliche, für uns aber neue Natur der Dinge in Gott wieder erschienen, bricht auf, quillt, überströmt, teilt sich mit, will Alles, was ist, hineinziehen in den Rhythmus der ewigen Lebensbewegung, von Gott her, zu Gott hin. […] Kraft dieser ewigen Bewegung, die in Jesus aktuell geworden ist, die aber alle Vorgänge des natürlichen und geschichtlichen Lebens diagonal durchschneidet als das Leben im ‹Leben›, wird jene neue Ordnung, der ‹Friede mit Gott› geschaffen.»71

      Die Herkunft des hier in Anführungszeichen gesetzten «Lebens», d. h. aber des «natürlichen und geschichtlichen Lebens», das vom emphatisch so zu nennenden ursprünglichen Leben «diagonal durchschnitten» wird, erklärt Barth in seiner Auslegung von Röm 5,12 ganz in den Bahnen Hermann Kutters so:

      «Es gibt nur eine Sünde: Das Selbständigseinwollen des Menschen Gott gegenüber. Aus der Unmittelbarkeit des Seins mit Gott fällt der Mensch heraus. […] Er stellt sich betrachtend und beobachtend neben das Leben. […] Er steht nun wirklich neben dem Leben, ausser Gott und darum nicht mehr unter der Ordnung des göttlichen, sondern unter der ebenso systematischen und folgerichtigen Unordnung des widergöttlichen Daseins.»72

      Diese Unordnung, dieses in Anführungszeichen zu setzende «Leben» durchschneidet die ewige, in Jesus aktuell gewordene Lebensbewegung als «das Leben im ‹Leben›». |39|

      VII.

      Es ist dieser Gedanke des ursprünglichen Lebens im natürlichen Leben, des Unmittelbaren im abgeleitet Vermittelten, in dem sich für Barth in dieser Phase Christentum und Sozialismus selbstverständlich begegnen sollten und finden müssten – so fraglos-selbstverständlich, eins in einer Sache, wie Barth es so weder in den vorangehenden noch in den folgenden Jahren ins Auge gefasst und behauptet hat. In den umfassenden Darlegungen über «Die Zukunft des Christentums und der Sozialismus» vom Sommer 1917 führt Barth aus: Im Urteil über den Sozialismus sind nicht entscheidend die Ideen, die Menschen, die erreichten Erfolge.