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Theologie im Umbruch


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      «Nur ein Seufzen u. Schreien ist eigentlich das Wesen des Sozialismus, ein hilfloses Ringen des Menschen mit den unpersönlichen Mächten dieser Welt, weil er ein Mensch sein[,] weil er leben möchte der tötlichen Umklammerung des Mammon u. einer mammonistischen Gesellschaftsordnung zum Trotz, ein unpraktisches, ratloses, phantastisches Hungern u. Dürsten nach Gerechtigkeit [vgl. Mt. 5,6] […]. Das ist der Sozialismus – nicht mehr als das – aber das ist er.»74

      «Dieses Unmittelbare im Sozialismus, […] das ist seine Kraft»75 – seine göttliche Kraft, müssen wir präzisieren. Denn «das Unmittelbare, das wir darin spüren», ist «der göttliche Stoss, der da wieder einmal aus der Tiefe gekommen ist ganz abseits von allem religiösen Wesen»76, aber innerlich zusammengehörig mit dem Evangelium, das als «Kraft Gottes» (Röm 1,16) «ein Stoss aus der Tiefe» ist «gleichsam, zur Erneuerung u. Errettung der Kreatur, geführt von dem Gott[,] der sich selber u. darum auch seiner Welt treu bleibt»77. Dass dieser Stoss im gegenwärtigen Christentum anders als im Sozialismus nicht als Kraft spürbar ist, hat seinen Grund darin, dass die Christenheit das Anklopfen des Gottesreiches

      «einfach nicht verstand, sondern sich schleunigst allerhand selbstgestellten Privat- u. Spezialproblemen zuwandte, die an sich wohl wichtig u. nötig wären[,] |40| aber nicht für sich[,] sondern nur im Zusammenhang der Gesamterneuerung des Lebens u. der Welt aus den Kräften Gottes, die der Sinn des Evangeliums ist»78.

      Diese Kritik an der Desorientierung der Christenheit hat neben dem spezifischen auch noch einen generellen Sinn, den wir notieren müssen, weil er die für Barth entscheidend wichtige Umkehrung des Paradigmas betrifft, in dem Theologie und Kirche gewöhnlich das Verhältnis von Gott und Welt begriffen haben. Barth bringt die Umkehrung, die er den beiden Blumhardts verdankt, 1919 anlässlich der Gegenüberstellung von Friedrich Naumann und Christoph Blumhardt in einem Doppelnekrolog so zum Ausdruck:

      «Die kirchliche Auffassung [sc. von der Naumann ausging], dass die Welt im Grossen und Ganzen im Argen liege [vgl. 1Joh 5,19] und liegen bleibe, während allerdings im einzelnen durch die Religion manches gemildert, erleichtert und verbessert werden könne, kehrten sie [sc. die Blumhardts] gerade um: Es gibt im einzelnen auch ohne Religion viel Gutes und Hoffnungsvolles, viele Gleichnisse des Göttlichen in der Welt, sie bedarf und harrt aber im Ganzen einer durchgreifenden Erlösung und Neuordnung, nicht durch Religion, sondern durch die realen Kräfte Gottes.»79

      Die Hoffnung, die in dieser Umkehrung der herkömmlichen Vorstellung von Gott und Welt wirksam ist, würde Robert Spaemann vielleicht auch einen «fast schon ruchlosen Optimismus»80 nennen. Ohne diese Hoffnung ist Barth aber nicht zu denken. Deshalb musste davon hier die Rede sein.

      VIII.

      Doch zurück zum «Leben im ‹Leben›», auf das diese Hoffnung hofft. Es ist für unser Verständnis der Explikationslinie, auf der sich Barths Theologie in diesen Jahren entfaltet, ausserordentlich aufschlussreich, dass wir dem Gedanken vom «Leben im Leben» – wenn nun auch in eine andere, durch den Austausch mit dem Bruder Heinrich Barth bestimmte Tonart transponiert – im Herbst 1919 wieder begegnen: Im Tambacher Vortrag «Der Christ in der Gesellschaft» vom 25. September 1919, den Georg Pfleiderer |41| zutreffend als die «Initialzündung der einflussreichsten theologischen Bewegung des 20. Jahrhunderts» bezeichnet hat.81 Im zweiten Teil des Vortrags, der den Standort feststellen soll, an dem sich Barth mit seinen Zuhörern befindet, wird die Formel vom «Leben im Leben» wieder aufgenommen: «einmal des Lebens im Leben bewusst geworden»82, schauen wir aus «nach einem wurzelhaften, prinzipiellen, ursprünglichen Zusammenhang unseres Lebens mit jenem ganz andern Leben» Gottes83. Es kann nicht anders sein: «der lebendige Gott», der uns nötigt, «auch an unser Leben zu glauben», bringt uns damit zum Leben – zum «Leben» in Anführungszeichen – «in kritischen Gegensatz».84 Unsere Seele ist «erwacht […] zum Bewusstsein ihrer Unmittelbarkeit zu Gott, d. h. aber einer verloren gegangenen und wieder zu gewinnenden Unmittelbarkeit aller Dinge, Verhältnisse, Ordnungen und Gestaltungen zu Gott»85. Eben dieses nie nur individuelle, immer auch soziale Erwachen der Seele ist «die Bewegung im Leben aufs Leben hin»86 – im Erstdruck hiess es noch kräftiger: «die Bewegung aufs Leben im Leben hin»87. Das Movens dieser Bewegung ist die Notwendigkeit, alles Leben «am Leben selbst zu messen»88. Damit und darin geschieht «die Revolution des Lebens gegen die es umklammernden Mächte des Todes»89, gegen «die tödliche Isolierung des Menschlichen gegenüber dem Göttlichen»90. An einer Stelle beschreibt Barth die Bewegung, die aus dem «kritischen Gegensatz zum Leben»91 entspringt – gemeint ist natürlich: aus dem kritischen Gegensatz zum Leben als «Abstraktum»92 –, als «Bewegung des Lebens in den Tod hinein und aus dem Tode heraus ins Leben»93.

      Das scheint sich nun aufs engste zu berühren mit einer Aussage im Aarauer Vortrag «Biblische Fragen, Einsichten und Ausblicke» vom 17. April 1920. Barth spricht dort vom «eigentümlichen Rhythmus des Fortschritts: |42| aus dem Leben in den Tod – aus dem Tode in das Leben!, der uns im Mittelpunkt der Bibel entgegentritt»94. Die Verwandtschaft ist offensichtlich. Doch wir müssen genauer zusehen. Diese Aussage im Aarauer Vortrag bezieht sich ja zurück auf die Formulierung, die wie eine Devise, musikalisch gesprochen, die grosse Coda des Vortrags einleitet: «Aus dem Tode das Leben!»95 Schon wenn bei der Reprise in dieser Devise nur noch «Aus dem Tode das Leben!»96 hervorgehoben ist, wird klar, dass der Gedanke aus dem Tambacher Vortrag im Aarauer Vortrag wirklich eine Umwandlung erfährt. Das wird vollends dadurch deutlich, dass dieses Kernmotiv von den beiden Sätzen eingerahmt wird: «Die eine einzige Quelle unmittelbarer realer Offenbarung Gottes liegt im Tode.» Und:

      «Das menschliche Korrelat zu der göttlichen Lebendigkeit heisst weder Tugend, noch Begeisterung, noch Liebe, sondern Furcht des Herrn, und zwar Todesfurcht, letzte, absolute, schlechthinnige Furcht.»97

      Es ist deutlich: Das Wort Tod meint hier in seiner Grundbedeutung den Tod als radikales Ende, als wirklichen Tod. Tod meint nicht mehr, so wie Barth in Tambach in analoger Sprache ausgeführt hatte, «ein selbständiges Leben |43| neben dem Leben», das als solches eben «nicht Leben, sondern Tod» ist. Was Barth in Tambach einhämmerte, bleibt zwar wahr:

      «Tot ist alles Nebeneinander von Teilen […]. Tot ist ein Innerliches für sich, ebenso wie ein Äusserliches für sich. Tot sind alle ‹Dinge an sich› […]. Tot sind alle blossen Gegebenheiten. Tot ist alle Metaphysik.»98

      Aber jetzt in Aarau geht es nicht mehr um die vorauslaufenden Schatten des Todes, jetzt geht es – reduplicative, wie die Scholastiker sagen – um den Tod selber, es geht um «Gethsemane und Golgatha»99.

      Es liegt danach auf der Hand, dass hier in Aarau mit dem gleichen Vokabular, ja mit den gleichen Sätzen etwas Neues, vielleicht sogar etwas «ganz Anderes» gesagt wird als ein halbes Jahr zuvor in Tambach. Man ist an das Bild von einem Handschuh erinnert, der umgestülpt worden ist: Es ist der gleiche Handschuh, aber er zeigt nun in den gleichen Umrissen eine ganz andere Gestalt – die Innenseite der Aussenseite als Aussenseite.

      IX.

      So stellt sich hier zum Schluss eine doppelte Frage:

      Zum einen nach rückwärts: Ist das, was wir in Aarau 1920 hören, wirklich die verborgene Innenseite dessen, was wir bis zur Jahreswende 1919/1920 gehört haben, bis nämlich Barth Anfang 1920 Franz Overbeck100 und dessen «Todesweisheit»101 entdeckt und ihn als seinen «Melchisedek»102 erkannt hatte? Anders ausgedrückt: War das Initiationserlebnis der Lektüre von Overbecks «Christentum und Kultur»103 eine Hilfe zur exakteren, unmissverständlicheren Formulierung eines Barth seit 1915/1916 beschäftigenden und bewegenden Gedankens? Oder kam hier durch die Vermittlung |44| des «überaus merkwürdigen und selten frommen»104 Overbeck ein ganz neuer Gedanke ins Spiel, der sich während der Arbeit am zweiten «Römerbrief» noch radikalisierte105 und nur mühsam in einer Kontinuität mit dem tu,poj didach/j z. B. des «Römerbriefs» von 1919 auszudrücken war?

      Und zum anderen nach vorwärts: In welcher Kontinuität steht z. B. die «Christliche Dogmatik», die «Kirchliche Dogmatik» mit der Overbeck-Besprechung und mit dem radikalen biblisch-hermeneutischen Manifest von 1920? Barth hat in seinen späteren Jahren wiederholt den inneren Abstand zur Römerbriefzeit