später unterlegte er die Melodie mit dem Text des Ave Maria.
Die »Begleitung«, das Präludium in C-Dur, des Barock-Musikers Johann Sebastian Bach, der 1685 in Eisenach zur Welt kam, schuf dieser in seiner Köthener Zeit 1722 unter dem Titel »Das Wohltemperierte Clavier oder Praeludia und Fugen durch alle Tone und Semitonia ...« (BWV 846 – 869). Es handelt sich um 24 Präludien und 24 Fugen in allen zwölf Dur- und Moll-Tonarten, beginnend mit C-Dur und danach chromatisch aufwärts führend. Der Begriff »wohltemperiert« bezieht sich auf die Stimmung des Tasteninstrumentes, das zu Bachs Zeiten ein Clavichord sein konnte, ein Cembalo, ein Spinett oder auch ein Hammerklavier, genannt »Piano Forte«. Bei der »wohltemperierten« Stimmung werden im Gegensatz zur bis dahin üblichen mitteltönigen Stimmung die zwölf Halbtöne einer Oktave so gestimmt, dass alle Tonarten sauber klingen. Dafür müssen die perfekt klingenden Intervalle ein klein wenig unsauber gestimmt werden. Das »Wohltemperierte Klavier« ist eines der wichtigsten Werke der Klavierliteratur überhaupt und seine Interpretation für jeden Pianisten eine große Herausforderung.
Bei diesem Ave Maria von Interpreten sprechen zu wollen, ist fast unmöglich, so groß ist ihre Zahl. In der Vergangenheit brachten es die berühmtesten Tenöre ihrer Zeit zu Gehör: der Italiener Enrico Caruso, der in den ersten beiden Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zum bedeutendsten Opernsänger avancierte und der US-Amerikaner Mario Lanza, der in den 1950ern seine größten Erfolge feiern konnte – ebenso wie die Wiener Sängerknaben oder Zarah Leander. Heute singen die Bach-Gounod-Komposition so bekannnte Opernstars wie die Sopranistin Renée Fleming. Es gibt zahlreiche Bearbeitungen für alle erdenklichen Instrumentengruppen, selbst von Popgruppen wie der Mittelalter-Rockband In Extremo gibt es eine Version. Viele Spieluhren erklingen in dieser Melodie, und auch auf manch einem Handy ertönt sie als Klingelton. 1962 schaffte die stimmgewaltige Glamour-Queen Shirley Bassey mit ihrer Interpretation sogar den Sprung in die Top-Twenty der englischen Charts. 30 Jahre später sorgte der schwarze Vokalkünstler Bobby McFerrin für Aufmerksamkeit, als er die musikalische Bach-Grundlage – gleich einer Akrobatik – nur mit seiner Stimme intonierte und sich von dem chinesischen Star-Cellisten Yo-Yo Ma begleiten ließ, der die Gounod-Melodie spielte. Eine wundervolle Live-Aufnahme, die durch ihre schlichte Schönheit besticht, produzierte die irische Frauenformation Celtic Woman im Jahre 2006.
Die getragene feierliche Melodie ist vom Charakter her sehr schlicht, das heißt ohne Verzierungen komponiert. Mit ihren aufsteigenden Intervallen und den Wiederholungen des »Sancta Maria« fleht die Musik auf klanglicher Ebene um das, was im Text in Worten formuliert erscheint. Die gleichmäßige Wellenbewegung in der Begleitstimme wiegt die Zuhörer in eine beruhigende Sicherheit ein.
So danken wir denn den beiden Tonkünstlern für ihre einzigartigen Werke. Johann Sebastian Bach, einer der genialsten und einflussreichsten Komponisten aller Zeiten, ereilte der Tod 1750 in Leipzig, Charles Gounod starb 1893 bei Paris. Mit dem musikalischen Ave Maria-Gebet haben uns beide ein spirituelles Vermächtnis hinterlassen, das sicherlich auch im weiteren Verlauf des 21. Jahrhunderts noch populär sein wird.
Der deutsche Dichter und Denker Novalis sagte einmal: »Ich sehe dich in tausend Bildern, Maria, lieblich ausgedrückt, doch keins von allen kann dich schildern, wie meine Seele dich erblickt.« Mit geöffneten Augen können wir Maria nicht sehen. Doch wenn wir unsere Augen schließen und hingebungsvoll der Komposition lauschen, können wir eine Verbundenheit, ein Gefühl der Nähe zu Maria entwickeln. Zwischen dem Betenden und der Angebeteten wird die Musik dann zum Mittler. Und das ist sowohl ein wertvolles als auch ein erlesenes Geschenk!
Titel – Autoren – Interpreten
Ave Maria
Musikalische Grundlage: (Präludium Nr. 1, C-Dur) Johann Sebastian Bach – 1722
Melodie: Charles Gounod – 1859
Lateinischer Text: Traditional – zw. 6. und 16. Jh.
Frühe Tonträgeraufnahmen: Alice Guszalewicz – 1902 Adelina Patti – 1905
Hit-Version: Shirley Bassey & the Rita Williams Singers with Geoff Love & his Orchestra – 1962; Label: Columbia
Populäre Einspielung ohne Text: Bobby McFerrin & Yo-Yo Ma – 1992; Label: Sony Classical
Zarte Neuinterpretation: Celtic Woman – 2006; Label: Manhatten (EMI Electrola)
’O Sole Mio
Italien 1898
Eine Sirene lässt grüßen
Welche Melodie kann schon von sich behaupten, dass sie im Weltraum gesummt wurde? Im April des Jahres 1961 fand dieses Ereignis statt, als mit dem Kosmonauten Juri Gagarin aus der Sowjetunion zum ersten Mal ein Mensch unsere gesamte Erdkugel umkreiste. Gagarin entschied sich für die neapolitanische Kanzone ’O Sole Mio. Ein Akt mit einem gewissen Symbolcharakter für die Kultur der Menschen auf diesem Planeten. Der Titel ist nicht nur eine Hommage an die Sonne, sondern auch an die Geliebte, deren Augen noch schöner leuchten, als unser energiespendender Feuerball am Himmel.
Die Bezeichnung »neapolitanische Kanzone« bedeutet wörtlich ins Deutsche übertragen »neapolitanisches Lied« und sinngemäß so viel wie »volkstümliches Lied aus Neapel«. Ursprünglich soll diese Musik von der sagenhaften Sirene Parthenope stammen, eine jener weiblichen Fabelwesen aus der griechischen Mythologie, die so lieblich sangen, dass kein Mann ihnen widerstehen konnte. Parthenope ist heute noch ein Synonym für den Namen der italienischen Stadt Neapel. Über ’O Sole Mio und die lange Geschichte all dieser gefühlvollen Lieder aus Bella Napoli verfasste der künstlerische Leiter im Schallarchiv des staatlichen Rundfunks (RAI) für die neapolitanische Kanzone von Neapel, Paquito Del Bosco, 2006 ein Buch. Er schreibt darin unter anderem, dass es im Neapel des 18. Jahrhunderts durch verschiedene Umstände zu einer »musikalischen Explosion« kam, »in deren Verlauf die Stadt zu einem Zentrum des Vokal- und Instrumental-Virtuosentums wurde, zur Heimat der Opera buffa (komische Oper) und zum Dreh- und Angelpunkt, ja fast zur Hauptstadt der klassischen Musik im damaligen Europa.« Christoph Dallach von Spiegel Online Kultur fügte zwei Jahre später ergänzend hinzu: »In der ›Kanzone Napoletana‹ fließen die uralten Folklore-Traditionen der Bauern und Arbeiter mit Klängen und Melodien der klassischen Musik zusammen. Bei diesen gern inbrünstig vorgetragenen Liedern dominieren Gitarren und Mandolinenklänge und ein oft schmachtend leidenschaftlicher Gesang, es wird viel jubiliert, aber meistens doch gejammert.«
Um unserem musikalischen Werk näher auf die Spur zu kommen, müssen wir zurück in das Neapel des Jahres 1859, das Geburtsjahr des kultivierten Textdichters Giovanni Capurro. Als Sohn eines Literaturprofessors besuchte Capurro zuerst ein Konservatorium, wurde dann aber doch Journalist. Nebenbei widmete er sich der Poesie, schrieb Geschichten, Gedichte verschiedener Art sowie Verse für Lieder. Sechs Jahre später erblickte der Komponist Eduardo Di Capua das Licht der Welt, dessen Vater Geiger, Komponist und Leiter einer Musikgruppe war. Da ein Besuch des Konservatoriums aus finanziellen Gründen nicht möglich war, trat Eduardo als mandolinespielender Autodidakt der Musikgruppe seines Vaters bei. Vor allem aber komponierte Eduardo neapolitanische Kanzonen. Bereits im jungen Alter von erst 19 Jahren machte er sich als Komponist einen Namen. Die Zusammenarbeit zwischen dem Textdichter Capurro und dem Komponisten Di Capua begann 1894 und ist belegt.
Zur Entstehung von ’O Sole Mio erzählen die »Fakten mit legendärem Beiwerk« laut Del Bosco Folgendes: Anfang des Jahres 1898 schreibt Capurro den Text. Für wen und aus welchem Anlass ist unklar. Eduardo Di Capua befindet sich kurze Zeit später mit der Truppe seines Vaters als Wandermusikant auf Tournee durch Russland. In Odessa, der Hafenstadt am Schwarzen Meer in der heutigen Ukraine, überkommt Eduardo großes Heimweh. Da fällt ihm ein, dass er einen Text von Giovanni im Koffer hat, den ihm dieser kurz vor der Abreise übergeben hatte: »Che bella cosa na jurnata ’e sole, n’aria serena doppo a na tempesta! Ma n’atu sole, cchiù bello, oje né’, ’o sole mio, sta ’nfronte a te ... « – »Wie schön ist ein sonniger Tag, die klare Luft nach einem Sturm. Aber eine andere Sonne, die noch viel schöner ist, meine Sonne, strahlt aus deinem Gesicht.« In der wehmütigen Stimmung fern der Heimat vertont Di Capua im – für neapolitanische