Kai Sichtermann

Kultsongs & Evergreens


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und die Taube am Fenster ist auch hier die zentrale Botschaft: »Une blanche colombe vienne te voir, ouvre-lui la fenêtre ...« So wurde aus La Paloma in Frankreich ein Seemannslied. Diese französische Fassung fand der Mainzer Musiker Heinrich Rupp (1838–1917) und übersetzte sie 1880 – zum Glück recht frei – ins Deutsche, so gelangen ihm die düsteren und kraftvollen Zeilen: »Falle ich einst zum Raube empörten Meer, fliegt eine weiße Taube zu dir hierher …« und »Schwarze Gedanken, sie wanken und fliehn geschwind uns wie Sturm und Wind …« Rupps Dichtung liegt den meisten in Deutsch gesungenen Fassungen zugrunde.

      Den typisch deutschen, männlichen Touch bekommt La Paloma im Zweiten Weltkrieg von Helmut Käutner verpasst, der 1943/44 mit Hans Albers (1891–1960) in der Hauptrolle den Film »Große Freiheit Nr. 7« drehte und auch die Songtexte schrieb. Käutner greift tief in die Seemanns-Klischee-Kiste »Wein’ nicht, mein Kind, die Tränen, die sind vergebens, Seemanns Braut ist die See ...« Dabei läuft in der Filmstory der blonde Hans als alternder Seebär einer jungen Frau nach, die ihn nicht will, und wenn einer weint, dann ist er es. Aber alles hat auch sein Gutes: Die Zeile »Schroff ist das Riff und schnell geht ein Schiff zugrunde …« bereichert die La Paloma-Dichtung um ein gelungenes Bild, und ganz ohne die Taube kommt es auch nicht aus. Hans Albers’ unvergleichliche Interpretation schafft trotz rauer Männlichkeit eine sehnsuchtsvoll-melancholische Stimmung, ein am Ende leise gehauchtes »La Paloma adé« pocht ans Gemüt und bei allen Eingeweihten lässt die Erinnerung an das bekannte Bild einen Schauer über die Haut laufen und das Herz erzittern. Diese erste Schellackplattenaufnahme von 1944 ist mit Abstand Alberts beste.

      Ja, es ist wohl doch die Taube am Fenster, und so mag es auch den Erfolg von Freddy Quinn mitbestimmt haben, dass er in seiner schönsten Version direkt damit beginnt: »Si a tu ventana llega una paloma ...« und dann erst in die deutsche 61er-Fassung übergeht, ein Liebeslied ohne Taube am Fenster, aber schlichter als Käutners und wirklich sehr schön: »Seh ich auch andre Menschen und fremde Sterne, denk ich an dich und grüße dich aus der Ferne ... La Paloma ohé, einmal müssen wir gehen, einmal schlägt uns die Stunde der Trennung. Einmal komm ich zurück.« Im Jahr 2004 schaffte der globale Gassenhauer den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde, als sich in Hamburg unter Freddy Quinns Dirigat über 80.000 Menschen versammelten, um gemeinsam einen Weltrekord im Chorsingen aufzustellen.

      »Seit über 100 Jahren spiegelt sich in La Paloma das Wechselspiel aus Glück und Unglück, Krieg und Frieden, Elend und Reichtum, Kunst und Kitsch«, fast Rüdiger Bloemeke die Widersprüche in seinem Buch treffend zusammen. Dieses beliebte Lied verbindet, es gehört einfach zum musikalischen Weltkulturerbe!

      Ergänzung

      Die Behauptung, dass La Paloma zum ersten Mal im Jahr 1863 von Concha Mendez in Mexiko öffentlich gesungen wurde, ist nicht unumstritten. Manche glauben, die italienische Gesangsdiva Marietta Alboni hätte das Lied bereits 1855 dargeboten und der spanische Bariton Francisco Salas zwei Jahre später.

      Titel – Autoren – Interpreten

      La Paloma

      Original-Musik: Sebastian de Yradier – zw. 1850 und 1859

      Spanischer Original-Text: vermutlich Sebastian de Yradier – zw. 1850 und 1859

      Erster Text mit Seefahrerinhalten: (als »La Colombe«) Joseph Tagliafico – um 1865/67

      Erster deutscher Text: Heinrich Rupp – 1880

      Deutsche Textfassung zum Film »Große Freiheit Nr. 7«: Helmut Käutner – 1943

      Weitere deutsche Textüberarbeitung: Victor Bach, Freddy Quinn, Horst Wende – 1961

      Englischer Text: (als »No More«) Don Robertson, Hal Blair – 1961

      Frühe Tonträgeraufzeichnungen: Ferruccio Giannini – 1896; Label: Berliner Gramophone International Novelty Orchestra – 1920er; Label: Victor

      Begeisternde Schellack-Version mit Text von Helmut Käutner: Hans Albers mit Orchester, Leitung (Arrangement) Werner Eisbrenner – 1944; Label: Odeon

      International erfolgreiche Instrumental-Produktion: Billy Vaughn Orchestra – 1958; Label: London

      Zweite Hit-Fassung mit deutschem Text: Freddy Quinn – 1961; Label: Polydor

      Populäre englische Aufnahme als »No More«: Elvis Presley – 1961; Label: RCA Victor

      Spanische Interpretation als Habanera: Marina Rossell – 2006; Label: World Village

Cover

      Ave Maria

      Deutschland/Frankreich 1859

      Das musikalische Gebet

      von Elke Seifert

      Das Ave Maria von Bach und Gounod ist wohl eines der bekanntesten Stücke klassischer Musik überhaupt. Kaum eine kirchliche Trauung wird ohne dieses Werk gefeiert, auf kaum einem Klassik-Sampler mit geistlichen Stücken des heutigen CD-Marktes fehlt es, und sogar auf der Walze eines Leierkastens war es in früheren Zeiten obligatorisch. Bis ins 2. Jahrhundert nach Christus reicht die kultische Marienverehrung zurück. Jesu Mutter Maria wird im 5. Jahrhundert durch dogmatische Festschreibungen in zwei Konzilien als »Gottesgebärerin« und »Immerwährende Jungfrau« bestätigt.

      Die ersten Teile des Marien-Gebetes erschienen wahrscheinlich irgendwann in den Jahren zwischen 65 und 100 nach Christus in griechischer Sprache; Autor ist der Evangelist Lukas. In Lukas 1,28 des Neuen Testaments verkündet der Erzengel Gabriel Maria, dass sie den Messias, Jesus Christus, gebären werde mit den Worten: »Gegrüßet seist du, Hochbegnadete! Der Herr ist mit dir!« und in Lukas 1,42 spricht Marias Cousine Elisabeth: »Gebenedeit bist du unter den Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes.« Gut 500 Jahre später hatte sich aus diesen Textfragmenten bereits eine Anrufung entwickelt. Dem Buch »Ave Maria« des brasilianischen Befreiungstheologen Leonardo Boff entnehmen wir: »Auf einem in Luxor in Ägypten gefundenen ›Ostrakon‹ (einer Tonscherbe) aus dem 7. Jahrhundert steht folgendes Gebet: ›Gegrüßt seist du, Maria, voll der Gnade, der Herr ist mit dir. Du bist gebenedeit unter allen Frauen, und gebenedeit ist die Frucht deines Leibes. Denn du hast Christus empfangen, den Sohn des Herrn, den Erlöser unserer Seelen‹«.

      Der zweite Teil des Gebetes, »Heilige Maria, Mutter Got­tes, bitte für uns Sünder, jetzt und in der Stunde unseres Todes«, entstand im Laufe der Jahrhunderte und dient als Fürbitte im Alltag der Gläubigen. Die Menschen beten zu Maria, der Muttergestalt, flehen sie an um Hilfe in ihrer persön­lichen Not, bitten sie demütig, Mittlerin zu sein zu Gott, Fürsprecherin für sie selbst, da sie sich als arme Sünder fühlen.

      Bereits seit dem 13. Jahrhundert ist das Ave Maria Teil des von gläubigen Christen gebeteten Rosenkranzes. Im Jahre 1566 erhält es durch die von Papst Pius V. autorisierte Festlegung im Römischen Katechismus (Lehrbuch für den christlichen Glauben) seine endgültige Textgestalt und wird zwei Jahre später in das Gebetsbuch aufgenommen. Selbst nach der konfessionellen Spaltung zwischen Katholiken und Protestanten im selben Jahrhundert spricht Martin Luther das Ave Maria vor jeder seiner Predigten. Bis heute ist es in der katholischen Kirche an bestimmten Tagen des Kirchenjahres auch Teil der Messe. Das Ave Maria wird zu einem der am häufigsten vertonten Texte der kirchenmusikalischen Literatur. Die Gebets-Komposition gibt es von Johannes Brahms, Anton Bruckner, César Franck, Franz Liszt, Camille Saint-Saens, Giuseppe Verdi und vielen anderen. Am bekanntesten sind die Vertonungen von Franz Schubert – er schrieb die Melodie 1825 für das Lied »Ellens dritter Gesang« in seinem Liederzyklus »Fräulein vom See« – und von Charles Gounod.

      Charles Gounod, ein 1818 bei Paris geborener französischer Komponist, der zunächst Kirchenmusiker und Chorleiter war, dann zu einem erfolgreichen Opernkomponisten avancierte, war der zu seiner Zeit stark verbreiteten Ansicht, der Musik des Komponisten Johann Sebastian Bach fehle das melodiöse Element. So bediente er sich des 1. Präludiums in C – Dur aus dem »Wohltemperierten Klavier«, »degradierte« es zur Begleitung, übernahm es unverändert und schuf selbst eine – zunächst rein instrumentale – Melodie dazu, die er »Méditation sur un prélude de Bach pour piano et violon solo, avec orgue