Kai Sichtermann

Kultsongs & Evergreens


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avancierte innerhalb der nächsten Jahre international, hauptsächlich jedoch in der westlichen Welt, zum Hit. Speziell die Version der US-amerikanischen Folk-Gruppe The Sandpipers – James Brady, Michael Piano, Richard Shoft – wird Ende 1966 in vielen Ländern der Welt ein Chart- und Verkaufserfolg; in England und den USA wird sogar eine Top-Ten-Notierung erreicht. Namhafte Interpreten, von Joan Baez und Trini Lopez über Nana Mouskouri (in französischer Sprache – französischer Text von Jean-Michel Rivat) und Julio Iglesias bis hin zu Compay Segundo, dem Grandseigneur des Bueno Vista Social Clubs, hatten die Guantanamera in ihrem Repertoire. Ob in Kneipen und Restaurants oder bei Festen – wer auf Kuba Urlaub macht, der wird Guantanamera in allen nur möglichen Versionen zu hören bekommen, auch heute noch. Der Kampf um die Freiheit endet nie.

      Doch wie kamen Melodie und Text in das Ohr von Pete Seeger, der (ungerechterweise?) jahrelang Tantiemen für das Lied kassierte? Beide, die Musikforscherin Argelia und der Interpret Fernández berichten, dass ein gewisser Hector Angúlo, ein Vertrauter von Fidel Castro, das Lied zusammen mit dem Text von José Martí von Kuba nach New York brachte. Argelia zufolge geschah dies 1963 (nach Fernández bereits zehn Jahre früher, was fragwürdig erscheint). Seeger selbst, der sich auch als Komponist der Melodie ausgab, behauptet, er habe 1963 zusammen mit Angúlo den Martí-Text adaptiert. Das erklärt auch, warum als Autorenangabe viele Jahr lang auf Tonträgern beim Titel Guantanamera zu lesen war: Musik: Pete Seeger und Hector Angúlo; Text: José Martí.

      Glaubt man Maria Argelia Vizcaíno und Joseíto Fernández, dass es Angúlo war, der von Kuba nach New York kam, so bleibt die Frage, wie Seeger und Angúlo sich trafen? Eine Version berichtet, dass Angúlo nach einem Konzert von Pete Seeger zu diesem kam und ihm im Beisein von Joan Baez das kubanische Lied vorsang. Einer anderen Legende zufolge hörte Seeger, wie Angúlo das Lied Kindern in einem Sommerlager vorspielte. Wie auch immer, es spricht vieles dafür, dass Hector Angúlo es gewesen ist, der das Stück in die Staaten brachte und die »Guajira« aus dem Titel strich.

      Doch war Angúlo auch derjenige, der als erster den Martí-Text verwendete? Laut Argelia war Hector Angúlo nur Überbringer einer fertigen Idee: der kubanische Musiker Julián Orbón, ein Lehrer von Angúlo, soll bereits 1958 als Erster den Text von José Martí zur bekannten Guantanamera-Melodie adaptiert haben. Und schon 1961 soll der kubanische Gitarrist Léo Brouwer (der eigentlich kein Sänger ist) die »Guajira Guantanamera« in dieser Version, also mit dem Text von José Martí, gesungen und so bekannt gemacht haben. Könnte das den Umstand erklären, warum einige aus dem Publikum im Juni des Jahres 1963 in der New Yorker Carnegie-Hall mitsangen, als Pete Seeger das zu diesem Zeitpunkt wohl doch nicht ganz unbekannte kubanische Lied vortrug? Wenige Fakten, viel Irritationen!

      Egal, ob wir nun Maria Argelia Vizcaíno in ihrer Argumentation folgen, Joseito Fernández oder Pete Seeger. Fakt ist, dass es ein Verdienst von Pete Seeger ist, den Song Guantanamera weit über die Grenzen Kubas hinaus bekanntgemacht zu haben.

      Titel – Autoren – Interpreten

      Guantanamera

      Original-Musik: Traditional – 19. Jahrhundert

      Spanischer Text: (ab Ende der 1950er-Jahre obligatorisch) José Martí – 1895

      Bearbeitungen von Musik und Text: Jose Fernández Díaz – 1927–41

      Zusammenführung von Melodie und Martí-Text: Julián Orbón – 1958

      Früheste Tonträger-Aufnahme mit eigenem spanischem Texten: Joseito Fernández – 1940/41; Label: RCA Victor

      Legendäre Live-Einspielung mit Text von José Martí: Pete Seeger – 1963; Label: CBS

      Erste internationale Hit-Version: The Sandpipers – 1966; Label: London (DE), A&M (US, ES), Pye (UK)

      Zweite internationale Hit-Fassung in Europa: Wyclef Jean – 1997; Label: Columbia

Cover

      Stille Nacht! Heilige Nacht!

      Österreich 1818

      Das unvergängliche Weihnachtslied

      von Renate Friedrich

      Wir schreiben das Jahr 1818. Obwohl die Napoleonischen Kriege endlich vorbei sind und auf dem Wiener Kongress die Ländergrenzen Europas neu geordnet wurden, sehen die Menschen schweren und unsicheren Zeiten entgegen. Es ist eisiger Winter, und in einem kleinen Dorf in der Nähe von Salzburg macht sich der Koadjutor (Hilfspriester) Joseph Mohr Gedanken, wie er seiner kleinen christlichen Gemeinde zum bevorstehenden Heiligen Abend eine musikalische Darbietung präsentieren kann. Die Orgel der neu eingerichteten Pfarrkirche St. Nicola in Oberndorf ist nämlich in einem dermaßen schlechten Zustand, dass sie nicht mehr bespielt werden kann. Da kommt Mohr eine Idee: Er erinnert sich, dass er vor langer Zeit einmal zu einem lateinischen Text ein deutsches Weihnachtsgedicht geschrieben hat. Er sucht und findet es. Später überreicht er es seinem Freund Franz Gruber, der den Organistendienst vertritt, und bittet ihn, eine passende Melodie hierfür zu komponieren. Gruber willigt ein. Im Schulhaus von Arnsdorf, einem Nachbarort von Oberndorf, kreiert der Musiklehrer eine Melodie in D-Dur zu einem 6/8-Takt für zwei Solostimmen und Chor mit Gitarrenbegleitung. Joseph Mohr gefällt die Komposition und er bereitet eine Aufführung vor. Als der Heilige Abend am 24. Dezember gegen Mitternacht in der St. Nikolaus Kirche als Christmette zelebriert wird, lauscht die Oberndorfer Bevölkerung, überwiegend arme Schiffbauer und Schiffer mit ihren Familien, andächtig dem gerade neu geschaffenen Weihnachtslied. Die Vortragenden sind die Urheber samt einem kleinen Chor: Komponist Gruber singt die Bass-Stimme und Textdichter Mohr, der sich auf einer Gitarre begleitet, den Tenor. Die besinnliche Komposition findet »allgemeinen Beifall« (Gruber), doch sicher waren sich damals weder Zuhörer noch Interpreten über die Tragweite dieser Welturaufführung im Klaren: Stille Nacht! Heilige Nacht! würde einmal zum bekanntesten und beliebtesten Weihnachtslied der Welt aufsteigen.

      Ob sich die Begebenheiten exakt so abgespielt haben, weiß heute niemand ganz genau. Doch einige Fakten und Indizien, wie der Bericht des Volksliedforschers Franz Magnus Böhme sowie Grubers schriftliche »Authentische Veranlassung« von 1854, lassen auf eine hohe Wahrscheinlichkeit der Ereignisse in der geschilderten Weise schließen.

      Den Text für das Werk hatte Joseph Mohr bereits zwei Jahre zuvor geschrieben. Als Sohn eines desertierten Musketiers und einer Stickerin wurde er 1792 als Josephus Franciscus in Salzburg zur Welt gebracht. Joseph hatte das Glück, dass seine vielfältigen Begabungen gefördert wurden. Er besuchte ein akademisches Gymnasium und war gleichzeitig als Sänger und Violinist bei den Chören der Universität und des Benediktinerstifts St. Peter tätig, später studierte er Philosophie. 1811 trat er in ein Priesterseminar ein. Die erste Dienststelle von Mohr als Koadjutor war die Mariapfarrei im Lungau, wo er wahrscheinlich auch 1816 den Text zu Stille Nacht schrieb. Vom Lungau kehrte er aus gesundheitlichen Gründen 1817 nach Salzburg zurück. Noch im gleichen Jahr trat er seinen Dienst in Oberndorf an.

      Franz Xaver Gruber, der die Komposition zum Text lieferte, wurde 1787 als fünftes von sechs Kindern in Hochburg-Ach, Oberösterreich, geboren. Seine Eltern waren Weber und Franz wird auch bis zu seinem 18. Lebensjahr als Weber tätig sein. Seine früh entflammte Leidenschaft zur Musik kann dies nicht trüben und seine Begabung wurde durch Musikunterricht gefördert. 1806 besteht er die Prüfungen zum Volksschullehrer. Im Folgejahr nimmt er eine Stelle als Lehrer, Messner und Organist in Arnsdorf an. Zusätzlich ist Gruber ab 1816 als Organist in der Pfarrei Oberndorf tätig, wo er ein Jahr später Joseph Mohr kennenlernt.

      Anfangs wurde Stille Nacht! Heilige Nacht! allein im Umfeld der beiden Erschaffer aufgeführt. Doch dieser musikalische Schatz trat seinen Weg an, die Welt zu erobern. Karl Mauracher, der aus dem Zillertal nach Oberndorf kam, um die Orgel zu überholen, war derart begeistert von Stille Nacht, dass er eine Kopie des Liedes mit in seine Heimat nahm. So erreichte Stille Nacht bereits ein Jahr nach seiner Uraufführung das Tiroler Zillertal. Für seine Verbreitung sorgten auch die als Warenhändler durch die Lande reisenden Familien Rainer und Strasser, die das Lied in ihr Repertoire aufnahmen und es 1832 in Leipzig vortrugen. Der Sohn des Volksliedsammlers Ludwig Erk veröffentlichte die Weise 1893 in »Schorers Familienblatt« Nr. 51. »Damit«,