Jazz-Standard ist. Schon die erste Einspielung vom Mai 1938 in New York ist eine Klasse für sich!
Eine andere Weiterentwicklung des Spiritual ist der Gospel, der im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als geistliche Kirchenmusik der Schwarzen bei Gottesdiensten nicht nur gesungen, sondern auch mit Instrumenten in (meist) swingenden Rhythmen präsentiert wurde, und der sich Anfang der 1930er-Jahre mit Jazz- und Blueselementen vermischte und sehr populär wurde. Auch die zu Beginn der 1960er entstandene Soul-Musik weist starke Gospel-Elemente auf. Den Unterschied zwischen Spiritual und Gospel erklärt die schwarze Sopranistin und Gospelsängerin Jo Ann Pickens aus Texas so: »Spirituals sind die ursprüngliche Form und Grundlage aller afroamerikanischen Musik – ihre Wurzel. Gospelmusik hat ihren Ursprung in der Kirche und ist nicht so alt wie die Spirituals. Es gibt zwar stilistische Unterschiede, aber in den letzten Jahren hat sich das etwas vermischt. Man könnte also einen Spiritual nehmen und einen Gospelsong daraus machen, was häufig geschehen ist.« Von den Interpreten, die The Saints als Gospel gesungen haben, ragt die schillernde Persönlichkeit Mahalia Jackson (1912–1972) mit ihrer Aufnahme von 1959 heraus. Die schwarze Sängerin, die sich ausschließlich der Gospelmusik verschrieben hatte, bezeichnete ihre Musik als »spirituell-geistlich«, im Gegensatz zum »hoffnungslosen« Blues, der so etwas wie ein weltliches Gegenstück zum Gospel ist.
Neben den Darbietungen von Armstrong und Jackson, gibt es zahlreiche wichtige Aufnahmen, so z. B. vom Trompeter Ken Colyer, der den Dixieland-Jazz in Europa bekannt gemacht hat. Ken Colyer’s Jazzmen – mit dabei waren so bedeutende Musiker wie Chris Barber, Monty Sunshine und Lonnie Donegan – spielten The Saints bereits 1953. Auch von den frühen Beatles, 1961 als Begleitband von Tony Sheridan, gibt es eine Produktion, ebenso wie vom Soul-Titan James Brown, dem »King Of Zydeco« Clifton Chenier, der R’n’B-Legende Fats Domino, des Weiteren von Judy Garland, Golden Gate Quartet, Louis Prima, Dr. John ... – diese Liste ließe sich nahezu unendlich fortsetzen. Und last but not least, sogar »The Boss« reihte sich in die Aufzählung der Interpreten ein: Bruce Springsteen, einer der erfolgreichsten Rockmusiker der USA, spielte den Klassiker 2006 live in Dublin.
Welche Bedeutung hat die textliche Aussage von The Saints? »O Lord I want to be in that number – When the saints go marching in« heißt soviel wie »Ich möchte dabei sein, wenn die Heiligen einziehen«. »Welche Heiligen ziehen wo ein?«, könnte man fragen. Nicht die »Heilig-Gesprochenen« im katholischen Sinne sind hier gemeint, sondern das Einziehen des Einzelnen als Geheilter ins Paradies – in die Welt der Einheit, die nicht wie die unserige der Polarität unterliegt; so wie Jesus schon sagte: »Mein Reich ist nicht von dieser Welt.« Der apokalyptisch anmutende Text anderer Strophen sollte nicht als Weltuntergangsvision begriffen werden – vom »Ende der Welt« sprechen die Weisen, wenn »das Bewusstsein aus seinem Traum der Identifikation mit den Formen erwacht und sich daraus zurückzieht« (Eckhart Tolle). »And when the sun refuse to shine« – »Wenn die Sonne sich weigert zu scheinen« – »When the moon turns red with blood« – »Wenn der Mond rot wie Blut wird« – »When Gabriel blows in his horn« – die Gerichtsposaune des Erzengel Gabriel – und »When they crown him King of Kings« – »Wenn sie den König der Könige krönen« – den wiederkommenden Christus. Wie schon im Neuen Testament der Bibel angedeutet (z. B.: »Taufe mit Feuer und dem Heiligen Geist« – Mt. 3,11) ist es der Kampf der polaren Gegensätze zwischen Yin und Yang, der die Gestalt eines apokalyptischen Dualismus annehmen kann, wenn der Mensch dazu bereit ist. Ist er dazu bereit, ist er im wahrsten Sinne des Wortes erlöst von dieser unserer Welt. Denn: die widerstandsfreie Verschmelzung der Gegensätze von Objekt und Subjekt führt uns zur Einheit – zu Gott.
Ergänzung
Verwechslungsgefahr: Der Gospel-Song »When The Saints Are Marching In« von 1896, komponiert von James Black, getextet von Katherine Purvis, unterscheidet sich von When The Saints Go Marching In in jeder Beziehung, sowohl den Text als auch die Musik betreffend.
Titel – Autoren – Interpreten
When The Saints Go Marching In
Musik: Traditional – 18./19. Jahrhundert
Englische Texte: Traditional – 18./19. Jahrhundert
Neuer Text: (als »The Five Penny Saints«) Sylvia Fine – 1959
Eine der ältesten Aufnahmen: Paramount Jubilee Singers – 1923; Label: Paramount
Legendäre Jazz-Einspielung auf Schellackplatte: Louis Armstrong – 1938; Label: Decca (US)/Brunswick (DE)
Ergreifende Gospel-Live-Fassung: Mahalia Jackson – 1958; Label: Columbia
Humorvolle Special-Version: (als »The Five Penny Saints«) Louis Armstrong & Danny Kaye – 1959; Label: London
Stimmige New Orleans-Aufnahme mit neuer Melodie und überarbeitetem Text: Dr. John – 2004; Label: Parlophone
Getragene Live-Produktion: Bruce Springsteen & The Sessions Band – 2006/07; Label: Sony (US), Columbia (DE)
Those Were The Days
Russland 18./19. Jahrhundert
Die russische Zigeunerromanze
von Hermann Müller
»Ein Lied geht um die Welt«, so möchte man feststellen, schaut man auf die Vielzahl von Anleihen, Interpretationen und Übersetzungen, die die Reise des Songs Those Were The Days begleiten. Die Vermutungen um das Entstehen dieser Komposition wirken zuweilen recht mysteriös oder widersprüchlich. Seine Ursprünge scheinen aber letztendlich auf ein altes russisches (evtl. ukrainisches) Volkslied mit dem Titel »Дорогой длинною« – »Dorogoj Dlinnoyu« (dt., auf einem langen Weg) zurückzugehen, wobei der Textverfasser unbekannt ist. Russische Zigeuner sehen es als eines ihrer wichtigen Lieder innerhalb ihrer musikalischen Tradition. Andere Quellen behaupten, das Stück sei von zwei russischen Autoren verfasst worden: der Komponist Boris Fomin (1900–1948) soll es Mitte der 1920er-Jahre nach einem Text des »vergessenen« Dichters Konstantin Podrevskii geschrieben haben.
Diese Annahme liegt im Bereich des Möglichen, denn wir wissen, dass Fomin sich zum Entsetzen seines Vaters als Musiker durchschlug, was im revolutionsgeschüttelten Russland in der Zeit vor und nach 1920 gewiss nicht einfach war. Er war ein begabter Pianist und komponierte ca. 150 Lieder.
Verschiedene russische Interpreten befassten sich mit dem Titel. Als erste bekannte Aufnahme gilt allgemein die von Alexander Wertinsky – irgendwann aus den 1920er-Jahren. Wertinsky war Sänger, Schauspieler und Dichter und auch Kultfigur des russischen Kunstkreises der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Eine andere schöne »Dorogoj Dlinnoyu«-Aufnahme mit russischem Text gibt es von Rada und Nikolai Volshaninov, Mitglieder einer Zigeunerfamilie.
Die Suche nach den genauen Wurzeln des Werkes gestaltet sich schwierig und es wäre wünschenswert, wenn sich einmal ein russischer Musikforscher dieser Sache annehmen würde.
Das Thema des russischen Ursprungstextes ist ein nostalgischer Rückblick auf eine vergangene leidenschaftliche Liebe und gar nicht so verschieden von dem englischen Text, den der Amerikaner Eugene »Gene« Raskin 1962 als Those Were The Days für einen Auftritt mit seiner Frau Francesca zu einem Kabarettprogramm schrieb. Während der Poet im russischen Text seinen wehmütigen Erinnerungen auf einer Pferdeschlittenfahrt in mondbeleuchteter Nacht nachgeht, sinniert Raskin in seiner Fassung ebenso sehnsüchtig über vergangene Träume und verlegt den Ort in eine Taverne, in der feuchtfröhliche Treffen stattfanden: »Those were the days my friend, we’d thought they’d never end, we’d sing and dance forever and a day ...« – »Das waren die Tage mein Freund, wir dachten sie würden niemals enden, wir würden singen und tanzen für immer und einen Tag.« Im April des gleichen Jahres nahm die US-amerikanische Folkgruppe The Limeliters als erste die Raskin-Version für ihr Album »Folk Matinee« als Schallplatte auf.
Für die im Internet verbreitete Behauptung, die Schauspielerin Maria Schell hätte Those Were The Days 1957 in der amerikanischen Film-Produktion “The Brothers Karamazov“ (“Die Brüder Karamasow“) gesungen, konnten wir trotz intensiver