Kai Sichtermann

Kultsongs & Evergreens


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die walisische Sängerin Mary Hopkin produzierte. Die 1950 geborene Hopkin wurde von dem damals angesagten spindeldürren Fotomodell Twiggy in der TV-Talentshow »Opportunity Knocks« entdeckt. Auf Twiggys Empfehlung gelangte Mary in die Studios der Beatles, die gerade das Plattenlabel Apple Records gegründet hatten und eine Reihe neuer Singles einspielen wollten. Paul erinnerte sich dabei an den Song von Gene und Francesca Raskin, den er bei deren Auftritt im Club Blue Lamp in London gehört hatte. Das schien für McCartneys Entdeckung Mary der geeignete Titel für eine neue Single zu sein. Anscheinend hatte er jedoch vorher das Lied anderen Sängern angeboten, wie beispielsweise Donovan, die jedoch ablehnten.

      Those Were The Days erschien als 5-Minuten-Single von Mary Hopkin gesungen auf dem Apple Label Ende August 1968 und wurde ein überwältigender Erfolg. Ob in England, USA, Frankreich, Spanien, Deutschland oder Italien, überall eroberte die Nummer Spitzenplätze in den Charts, sodass am Ende des Jahres die Single bereits fünf Millionen Mal verkauft wurde.

      »That’s how I got the job, cause they didn’t know anybody else … they could have found a real arranger …« – »So habe ich den Job gekriegt, weil sie niemanden sonst kannten ... sie hätten einen richtigen Arrangeur finden können ...« Mit diesen Worten beschrieb der damalige Musikstudent für klassische Musik, Richard Hewson, die Situation, nachdem er von Peter Asher, dem A&R-Mann (Artist & Repertoire) bei Apple im Sommer 68 den Auftrag erhielt, Days zu arrangieren. Dabei war – offensichtlich – weniger Hewsons mangelnde Erfahrung in Sachen Arrangement verantwortlich, als vielmehr seine klassische musikalische Ausbildung, da McCartney einige Orchesterpassagen in Days eingebaut sehen wollte. Dennoch, Hewson wollte über die Art der Instrumentierung in seinem Arrangement von Those Were The Days eher eine alte countrymäßige Atmosphäre entwickeln: Akustische Gitarre, Violine/Bratsche, Klarinetten, Standbass, Tuba und ein der ungarischen Zigeunermusik nahestehendes Instrument, ein Cembalon. Hewson dachte dabei an einen seiner Professoren, Gilbert Webster, der dieses Instrument ausreichend beherrschte. Herausgekommen ist ein nostalgisch klingendes Arrangement, das wie ein Salon-Orchesters der 1930er-Jahre klingt und ganz hervorragend zum Song passt. Der Knabenchor am Ende des Stückes erinnert an eine Art filmischen Abspann, wie er in alten Heimatfilmen nicht selten zu finden ist, ein sehnsuchtsvolles »fair-well«.

      Those Were The Days wurde von zahlreichen Interpreten mit teilweise unterschiedlichem Text und in verschiedenen Sprachen dargeboten, von dem Sänger Bobby Vinton, den Schauspielern Carroll O’Connor & Jean Stapleton und dem französischen Orchesterleiter Raymond Lefèvre; die Sängerinnen Alexandra, Dalida, Sandie Shaw und Dolly Parton sangen es ebenso, wie die holländische Party-Formation Hermes House Band, um nur einige zu nennen. Für Freunde der russischen Sprache müssen Nikolai Erdenko, Nani Bregvadze, Edita Pieha und Theodore Bikel erwähnt werden. Auch Mary Hopkin begnügte sich nicht mit einer englisch gesungenen Version; als der große Triumph von Those Were The Days abzusehen war, nahm die Waliserin den Song auch in anderen Sprachen auf. Mary Roos, Paola, Sandie Shaw und Karel Gott probierten es auf Deutsch: »An jenem Tag mein Freund, da haben wir gemeint, die Zeit blieb stehn, allein nur für uns zwei ...«

      2004 starb Gene Raskin im hohen Alter von 95 Jahren in New York, wo er auch geboren wurde. Gene verstand als Professor für Architektur offensichtlich nicht nur von der Gestaltung von Bauwerken etwas, er war auch als »Architekt« von Those Were The Days maßgeblich dafür verantwortlich, dass aus einer russischen Zigeunerromanze ein Welterfolg wurde.

      Titel – Autoren – Interpreten

      Those Were The Days

      Musik: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Boris Fomin – zw. 1917 u. 1920)

      Russischer Text: Traditional – 18./19. Jahrh. (evtl. Konstantin Podrevskii)

      Englischer Text: Gene Raskin – 1962

      Deutscher Text: (als »An jenem Tag«) Heinz Korn – 1968

      Angeblich die erste Tonaufzeichnung in Russisch als »Doro­goj Dlinnoyu«: Alexander Wertinsky – 1926

      Gypsy-Aufnahme in Russisch: Rada und Nikolai Volshaninov – 19??

      Erster Tonträger in Englisch: The Limeliters – 1962; Label: RCA Victor

      Mega-Hit-Version: Mary Hopkin – 1968; Label: Apple

      Spätere Produktion mit Chart-Notierung: Hermes House Band – 2003; Label: Polydor

Coverbild

      Guantanamera

      Kuba 19. Jahrhundert

      Ein kulturelles Ferment Kubas

      Wörtlich übersetzt heißt »Guantanamera«: die aus Guan­tánamo Stammende. Guantánamo ist eine im Osten von Kuba gelegene Provinz. In den frühen Überlieferungen heißt der Song meist »Guajira Guantanamera«. Guajira hat zwei Bedeutungen: einerseits ist eine ländliche Lied-Tanzform gemeint, andererseits eine Bäuerin (auch Frau oder weibliche Form). »Guajira Guantanamera« heißt also einfach gesagt: die Bäuerin/die Tanzform aus (der Provinz) Guantánamo. Wann genau die Melodie zu Guantanamera entstanden ist, lässt sich nicht mehr einwandfrei ermitteln. Die kubanische Musikforscherin Maria Argelia Vizcaíno vermutet, dass das musikalische Thema bereits aus dem 19. Jahrhundert stammt. (Alejo Carpentier Valmont, ein kubanisch-französischer Schriftsteller, nimmt an, die spanischen Urwurzeln würden sogar bis ins 15. Jahrhundert zurückreichen.) In Kuba wurde Guantanamera durch den in Havanna geborenen Musiker, Sänger und Entertainer Joseíto Fernández bekannt; mit bürgerlichem Namen hießt er Jose Fernández Díaz und lebte von 1908 bis 1979 auf Kuba. Joseíto Fernández wird sich später auch als Komponist der Melodie ausgeben, aber erst 1985 werden seinen Nachfahren das Urheberrecht und damit die Tantiemen von der SGAE (der spanischen Urheberrechtsgesellschaft) zugesprochen.

      Angefangen hatte alles, als Fernández Anfang der 1930er-Jahre täglich den Schluss von Radiosendungen gestaltete. Im kubanischen Rundfunksender CMQ in Havanna, in der »Cronica Roja«, improvisierte Fernández, indem er zum bekannten Guantanamera-Thema im Décima-Stil (ein Muster von 10 Zeilen zu je 8 Silben, in der Aufteilung 4 + 4 + 2) Geschichten von kleinen Leuten dichtete. Fernández: »Meine Décimas enthalten nichts Erfundenes, Ausgedachtes. Darum sage ich auch immer, dass die ›Guajira Guantanamera‹ von Anfang an ein Protestlied gewesen ist. Sie war eigentlich immer Ausdruck von etwas Schmerzlichem. Ich habe Missstände, Ungerechtigkeiten, die Ausbeutung, Armut, Bösartigkeit, den schlechten Charakter bekämpft.« Die Melodie von Guantanamera wurde so zur Improvisationsgrundlage für aktuelle politische Radiomeldungen. In den 1940ern wurde Joseíto Fernández immer bekannter und nahm auch Schallplatten auf. Was unser Lied betrifft, so nimmt Fernández das Stück 1940/41 mit seinem Orchester »Típica« mit eigenem Text auf und nennt es »Guardabarreras« und »Mitte biografia« (dt., meine Biografie).

      Im Juni 1963 gibt der Folk-Sänger Pete Seeger in der New Yorker Carnegie-Hall ein Konzert und singt den Song Guantanamera mit spanischem Text. Begeisterung beim Publikum! Als Grundlage für seinen Text diente dem 1919 in New York geborenen Seeger ein Fragment aus den 1895 geschriebenen »Versos Sencillos« des Kubanischen Dichters José Martí: »Ich bin ein ehrlicher Mensch, und komme von dort, wo die Palmen wachsen, und ehe mich der Tod zum Schweigen bringt, möchte ich aus ganzer Seele meine Verse darbieten. Mein Vers ist von hellem Grün und von einem leuchtenden Rot, mein Vers ist ein verwundeter Hirsch, der im Gebirge Schutz sucht. Mit den Armen der Erde will ich mein Los teilen, und der Bach aus den Bergen gefällt mir mehr als das Meer.« Das Konterfei des in Kuba beliebten und hochverehrten Freiheitskämpfers Martí (1853–1895), der in Guantánamo, der ärmsten Provinz Kubas, gegen die spanischen Kolonialherren kämpfte und fiel, kann auf jedem kubanischen Peso-Schein bewundert werden.

      Die kubanische Provinz Guantánamo hat durch das Gefangenenlager für Terrorverdächtige der USA seit 2002 leider aktuelle Bedeutung erlangt. Als Kuba 1903 selbständig wurde, mussten die Kubaner das 116 km² große Gebiet an der Bucht von Guantánamo an die USA abtreten, die hier eine Militärbasis errichteten.

      Durch das Seeger-Konzert wurde das kubanische Volkslied in dieser Form zu einem Symbol des Widerstands, unter anderem ausgelöst durch die Kubakrise im Oktober 1962, zum politischen Protest-Song der Friedensbewegung