Kai Sichtermann

Kultsongs & Evergreens


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er ein in den Schatz bürgerlich weihnachtlichen Liedgutes und eroberte sich eine unangefochtene Spitzenstellung. In Berlin legten die Leierkastenspieler in den Weihnachtswochen die Walzen von Stille Nacht und ›O Du Fröhliche‹ auf.« Sogar bei einer Audienz, bei der Kaiser Franz I. und Zar Alexander I. zugegen waren, trug Familie Rainer Stille Nacht in diesen Jahren vor. Familie Rainer war es auch, die das Lied nach Amerika brachten, wo sie es, erstmalig in den USA, 1839 in New York vor der Trinity Church sangen. Evangelische und katholische Missionare brachten es zur Jahrhundertwende in alle Kontinente und sorgten damit für den weltweiten Triumphzug.

      Die Gruber-Komposition gehört wohl zu den berühm­testen Melodien auf unserem Globus. Die Tatsache, dass das Lied inzwischen in nahezu allen gängigen Sprachen zu Hause ist, dürfte rekordverdächtig sein: Bis heute gibt es über 300 Übersetzungen in – man lese und staune – über 120 verschiedenen Sprachen! Die bekannteste englische Übersetzung schuf der US-amerikanische Reverend John Freeman Young (1820–1885), ein Priester der Trinity Church in New York.

      Die früheste Tonträgeraufnahme stammt von dem Bariton-Opernsänger Hans Hoffman aus dem Jahre 1902. Damals gab es noch keine Schallplatten, sondern zylinderförmige Walzen, die auf dem von dem US-amerikanischen Erfinder Thomas Alva Edison entwickelten Phonographen abgespielt wurden. Als Label-Information für Hoffmans Stille Nacht-Aufnahme könnte man angeben: Edison National Phonograph Company, Zylindernummer 12388. Die Aufzeichnung vom Haydn Quartett drei Jahre später sollte die erste Version des Songs auf Englisch sein.

      Stille Nacht! Heilige Nacht! besteht im Original aus insgesamt sechs Strophen. Die bekannteste (und auch meist gesungene) Form unterscheidet sich darin, dass nur die erste und zweite sowie die sechste (als dritte) Strophe gesungen werden. Die Textstelle der sechsten Strophe »Tönt es laut bei Ferne und Nah« wurde in eine modernere Form gebracht: »Tönt es laut von Fern und Nah«. Seit 2006 werden bei der alljährlichen Gedenkmesse vor der Stille-Nacht-Kapelle in Oberndorf bei Salzburg wieder alle sechs Strophen des Liedes aufgeführt.

      Was ist das Erfolgsgeheimnis von Stille Nacht? Ohne Zweifel verbreitet sich allein schon bei Erklingen der Melodie ein gewisser Zauber, vom dem man leicht gefangen wird. Dadurch wird eine Stimmung erzeugt, in welcher sich die textliche Grundaussage, der Ruf nach paradiesischer Einheit, nach Liebe und Barmherzigkeit, besonders gut entfalten kann. Für viele mag noch eine verklärte Kindheitserinnerung hinzu kommen. Das alles macht den Gruber-Mohr-Titel zu einem echten Kultlied.

      Die meisten auf Platten veröffentlichten Cover-Versionen sind in Englisch gesungen – von Silent Night! Holy Night! dürfte es mehrere hundert Aufnahmen geben. Bekannte und hörenswerte Versionen großer Künstler sind ab den 1920er-Jahren aus allen Jahrzehnten bekannt: z. B. vom Woodlawn Quartette aus den 20ern; aus den 30ern die von Bing Crosby; von Frank Sinatra, der viel zur Verbreitung in den USA beigetragen hat, aus den 40ern; in den 50ern waren es Mario Lanza und Elvis Presley; ein Jahrzehnt später können wir Florence Ballard von den Supremes, Nat King Cole, Dean Martin, die unvergleichliche Gospelsängerin Mahalia Jackson oder Countrystar Johnny Cash hören; in den 70ern haben wir die Wahl zwischen den Temptations und den Edwin Hawkins Singers; Emmylou Harris und Stevie Nicks von Fleetwood Mac waren es in den 80ern; in den 90ern sind es neben den Drei Tenören (Plácido Domingo, Luciano Pavarotti und José Carreras), Sinead O’Connor, Enya mit einer Irischen Version sowie Carlene David mit einer Reggae-Fassung und im neuen Jahrtausend beeindrucken Allison Crowe, Aly & AJ sowie Nils Landgren.

      Joseph Mohr wurde nur 56 Jahre alt, im Jahre 1848 erlag er einer Lungenlähmung in Wagrain, wo er von 1837 an als Vikar tätig war; Franz Gruber, der neben Stille Nacht noch knapp zweihundert andere Werke komponierte, starb 76-jährig an Altersschwäche. Ob die beiden wohl geahnt hatten, welch bedeutungsvolles Vermächtnis sie uns hinterlassen haben? Auch heute, 180 Jahre nach Uraufführung der weihnachtlichen Weise, ist seine Beliebtheit ungebrochen. Bernhard Vogel, von der Frank Sinatra-Internet-Website »The-Main-Event« bringt es auf den Punkt, wenn er schreibt: »Kein Lied ist weltweit so sehr ›in aller Munde‹ (im wörtlichen Sinne) wie Stille Nacht.«

      Titel – Autoren – Interpreten

      Stille Nacht! Heilige Nacht!

      Original-Musik: Franz Gruber – 1818

      Deutscher Original-Text: Joseph Mohr – 1816

      Englischer Text: John Freeman Young – 1859

      Älteste Tonträgerproduktion in Deutsch: Hans Hoffman – 1902; Label: Edison National Phonograph Company

      Feierliche deutsche Chor-Darbietung: Wiener Sänger­knaben – 1959; Label: Austroton

      Hit-Version in den USA: (als »Silent Night, Holy Night«) Bing Crosby – 1952; Label: Decca (US)/Brunswick (DE)

      Unkitschige Fassung in Englisch: Aly & AJ – 2006; Label: Hollywood

      Schlichte Neuaufnahme: Die Sternensinger St. Nikolaus – 2007; Label: Suite

Cover

      Ode »An Die Freude«

      Deutschland 1824

      Sternstunde der Menschheit

      von Misha G. Schoeneberg

      Es ist dieses eine Bild für die Götter: Umarmt umarmend stehen die jungen Burschen da, geben sich mit einem heiligen Kuss den Treueid ewiger Freundschaft. Als wären sie schon da, im Elysium, in jenen viel besungenen Gärten Edens, manchmal schlicht das Paradies genannt – dort, wo einst die Helden in den himmlischen Gefilden von cherubimen Engeln verwöhnt werden ...

      Kraatsch! Alles Quatsch! Mit einem unerhörten Dissonanzschlag des gesamten Orchesters – nur die Streicher ruhen – bricht Beethoven die Realität, als würde er all dies hehre Pathos Schillers, welches jener euphorisch in seiner Ode An die Freude beschworen hatte, wegfegen wollen – bis er dann peu à peu das Lied wieder aufbaut, es ja letztendlich in einem frenetischen Jubel zum tosenden Finale führt. Was war los?

      Als Friedrich Schiller die Ode im Jahr 1785 fertig schrieb, muss ihm sein eigenes Leben wie eine der himmlischen Fügungen, die er zu gern in seinen Gedichten besang, vorgekommen sein: Geboren 1759 in Marbach, die arme Kindheit in Ludwigsburg als Sohn eines Berufssoldaten, sieben lange Jahre auf der militärischen Drill-Lateinschule, das kurze Medizinstudium, die Ernennung im Alter von 20 Jahren zum Regimentsarzt in Stuttgart. Für die meisten Jungs, nicht nur zu seiner Zeit, hätte sich doch da der Traum schon erfüllt. Doch nicht für Schiller. Sein Stürmen und Drängen ging weiter: Die frühe Anerkennung seiner wahren Leidenschaft, des Schreibens (sein während des Studiums angefangenes Theaterstück „Die Räuber“ wurde 1782 in Mannheim uraufgeführt), dann das heimliche Verlassen seines Regiments und der folgende Arrest sowie das Schreibverbot durch seinen Arbeitgeber, den württembergischen Herzog Carl Eugen. Schillers Werdegang war wie der Prototyp späterer Künstlerlebensläufe: Er schmiss die bürgerliche Arzt-Karriere und entschied sich in einer Nacht-und-Nebel-Aktion mit seinem Freund, Andreas Streicher, zur Flucht nach Mannheim. Dort erhielt er tatsächlich einen Vertrag für ein Jahr am Theater. Ein Rückschlag war das durchgefallene Stück „Fiesko“, doch schnell stellte sich der ersehnte Erfolg ein: „Kabale und Liebe“ wurde 1784 schon nach dem 2. Akt bejubelt. Was für ein Leben! Dabei, die Sorgen waren groß. Und wurden größer. Das Ende des Arbeitsvertrags, kein Geld, Krankheit, Schulden, mal eine Unterstützung durch eine Dichterfreundin, doch immer auf der Flucht vor seinen Gläubigern. So kam Schiller in Leipzig an.

      In Christian G. Körner fand Schiller einen Freund und Mäzen, der ihm Zuflucht bot; für Schiller hieß das erst einmal, seiner persönlichen Not entkommen zu sein, bedeutete doch auch die Bestätigung seines Könnens. Eine ungeheure Euphorie, die er auf die ganze Menschheit zu übertragen suchte, erfasste ihn. Sie war eingebettet in die politische Hoffnung, welche die Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten von Amerika 1776, die der Frieden von Paris 1783 völkerrechtlich legitimierte, auslöste. Und in Körners Haus, das lange schon ein Mittelpunkt republikanischer Netzwerke war, schrieb Schiller die weltberühmten Zeilen:

      Freude, schöner Gotterfunken,

      Tochter aus Elysium,

      Wir