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Mein Name sei Berlin


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Man kann füglich sagen, ganze Klassen leben nur, um zu kritisieren. Es ist ihr täglich Brot. Aber sonderbarerweise, wie Küstenvölker, die beständig mit Wasser zu tun haben, meist nicht schwimmen können, so können die Berliner, die an dem Wasser der Kritik wohnen, nicht kritisieren. Sie sind sehr witzig und haben bis zu einem hohen Grade die Fähigkeit ausgebildet, die lächerlichen Seiten einer Sache herauszufühlen, aber eigentliches Urteil haben sie nicht. Über nichts. Weder über Menschen, noch Politik, noch Kirche. Am wenigsten über Kunst. Die Witzigen begnügen sich mit einem Witz, die große Masse wartet ihre Zeitung ab und schmückt sich offenkundig mit fremden Federn, wie Damen falsches Haar als einen Schmuck tragen. So hört man oft: Wir wollen das bis morgen lassen; ich habe O. Bl.1, L. P. noch nicht gelesen.

      Ungeheure Streitlust, Rechthaben à tout prix.

      Diskretion existiert nicht. Es bedarf deshalb auch kaum einer näheren Bekanntschaft, um zu den »Bekenntnissen einer schönen Seele« überzugehen. Diese schöne Seele ist natürlich die eigene Abstammung. Ehegebrechen werden mit einer Offenheit behandelt, die vom Standpunkt der Wahrhaftigkeit nichts zu wünschen übrig läßt. Überhaupt: offen sein, wahr sein, das ist das dritte Wort. Dahinter verbirgt sich aber viel Schlauheit.

      Bei näherer Bekanntschaft beginnen die Bekenntnisse. Diese fließen keineswegs aus einer beichtebedürftigen Seele. Beichte! Was heißt Beichte? Beichte hat Reue zur Voraussetzung, und dies zählt zu dem letzten, womit man sich abgibt. »Ein unglaublicher Grad, mit sich zufrieden zu sein«, ist ein hervorstechender Zug.

       Mit Fremden

      Mit der Ortseitelkeit hängt zusammen, daß auf den Fremden gar keine Rücksicht genommen wird. Überall in der Welt kommt man dem Fremden entgegen und macht seine Interessen zu den seinigen oder gibt sich wenigstens das Ansehen davon, man erkundigt sich nach Einrichtungen seiner Stadt, seines Landes, fragt nach seiner Kunst, nach seiner Beschäftigung. Man sucht sich zu belehren und vor allem den Fremden dadurch wohltätig zu berühren.

      Das kennt der Berliner nicht. Er fordert sofort ein Eingehen auf seine Stadt und das Leben und die Interessen derselben. Vor zehn Jahren besuchte mich ein Leipziger. Er kam aus Paris und ging nach Leipzig zurück. Sein Gesicht strahlte, denn er umfaßte nun die Welt. Sein Axiom war: »In Paris vollziehen sich die Dinge, in Leipzig werden sie gedacht.« Der eigentliche Berliner kennt diese Zweiteilung nicht, er sorgt für das eine und das andere.

      »Vor Gott sind eigentlich alle Menschen Berliner.« Nicht nur von Niemann und der Mallinger, auch von Herrn Schwing und Frl. Hofmeister2 wird gesprochen, als ob jeder gebildete Mensch die Verpflichtung habe, sie zu kennen. Hildebrand, Manheimer und Samter3 werden als Weltzelebritäten behandelt, und die Worte Spandauer- oder Wall- oder Jägerstraße mit einer gewissen Nonchalance hingeworfen, als wäre es selbstverständlich, daß die Betreffenden dort wohnen.

       Schluß

      Es ist der unfeinste Ton, den die Welt kennt, und man kann an ihm studieren, wohin die bloße Behandlung des Wissenschaftlichen, des Lernens führt. Und wie recht diejenigen haben, die sich von einseitiger Kunst und Wissenschaftsentwicklung wenig für den wirklichen Fortschritt der Menschheit versprechen. Die Unfeinheit hat sich hier einen Typ geschaffen.

      Und doch! Es wohnt allem diesem ein Reiz inne, auch eine Berechtigung, ohne welche die ganze Erscheinung entweder nie entstanden wäre oder sich nicht gehalten hätte. Jeder wird die Wahrnehmung selbst gemacht haben. Nehmen wir nur England. England hat die schönsten Weiber, auch eminent an Geist und Witz und Form. Sie sind das Ideal. Aber ihre Zahl ist nicht übergroß, und der Zweck dieser Zeilen ist es nicht, von der Ausnahme, sondern von der Regel zu sprechen, nicht vom einzelnen, sondern von der Masse. Und wie ist die Masse drüben? Öd und leer; »stupid«, redensartlich. Sie treten vor die Sixtinische Madonna und sagen »very nice, indeed«, sie lesen eine erschütternde, aber von einigen Seltsamkeiten begleitete Geschichte und finden sie »very funny«, alles hat seinen Zettel oder kriegt ihn, als ob sich alles, was in der Welt ist und geschieht, in die sechs Rubriken »nice«, »beautiful«, »clever« und in »funny«, »awkward« und »shocking« einsperren ließe. Eine trostlose Leere gähnt einen an, und die Zauber des weißen Teints, des halbgeöffneten Herzmundes schwinden von Tag zu Tag mehr. Kommt man nach solchen Eindrücken in die Heimat zurück, so empfindet man das »Schaumspritzen der Freiheit«, das hier zu Hause ist, doch als Fortschritt und Segnung und sieht über das Schaumspritzen hinweg, das einem mitunter empfindlich in die Augen spritzt.

      Und was ist das Resultat? Über die Kultivierung dessen, was pikant und geistvoll und witzig und anregend und apart ist, ist uns die Kultivierung des Schönen verlorengegangen. Das Geistreiche hat sich auf Kosten des Schönen, der Esprit auf Kosten der Form als ein »rocher de bronze« stabilisiert. Behalten wir das Gute, aber geben wir ihm ein anderes Fundament, fügen wir zu der Bildung des Geistes auch die Bildung des Herzens, die freilich eine Revolution unserer gesamten Anschauung zur Voraussetzung hat, und der Berliner Ton wird der erste sein, wie er jetzt, Pardon, der letzte ist.

       Dieser Text aus dem Nachlass Theodor Fontanes (*1819 in Neuruppin, †1898 in Berlin) stammt vermutlich aus der zweiten Hälfte der 1870er Jahre. Fontane kam bereits in jungen Jahren als Lehrling nach Berlin und lebte hier, mit Unterbrechungen, bis zu seinem Tode. Die »Vossische Zeitung« bezeichnete den Text als »Strafgericht Fontanes über seine Landsleute«.

      1 Oskar Blumenthal, damals Theaterkritiker; Ludwig Piersch, Kunstreferent der »Vossischen Zeitung«.

      2 Mitglieder der königlichen Theater.

      3 Bekanntes Geschäftshaus in der Jägerstraße.

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