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Sternstunden der Wahrheit


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Komik, wie Satiren, Glossen, Fakes, Anekdoten, Grotesken oder Nonsens-Texte funktionieren. Ein guter Wahrheit-Text muss immer auch ein humorkritisches Element besitzen und zumindest durchscheinen lassen, welche Schule des Humors der Autor besucht hat. Und da der Wahrheit-Redakteur während seiner Schulzeit zuviel Dozirin eingeträufelt bekam, hat er der Wahrheit sogar ein Programm gegeben. Demnach hat die Wahrheit, wie es in ihrer Selbstdarstellung heißt, drei Grundsätze: »Warum sachlich, wenn es persönlich geht«, »Warum recherchieren, wenn man schreiben kann«, »Warum beweisen, wenn man behaupten kann«.

      Neben dieser hammerhart ironischen Programmatik gibt es allerdings einen sehr ernsthaften Grundsatz: Die Wahrheit schlägt nie auf Schwächere ein. Die Frage ist nur: Was sind Schwächere? Sind das auch all die Religiösen, die nicht nur die Wahrheit, sondern alle vernünftigen Menschen dauernd einschränken wollen, weil sie sich schwer verletzt fühlen, wenn man ihre Religion verspottet. Da bleiben Konflikte nicht aus, wie zum Beispiel im Jahr 2001, als die Wahrheit einen Scherzreim über Allahs Arsch druckte. Als Reaktion gab es 13.000 Leserbriefe aus aller Welt, Drohanrufe in der Redaktion, Unterschriftenlisten in Moscheen und eine Titelgeschichte im türkischen Boulevardblatt Hürriyet. Wenn’s der Wahrheitfindung dient. Die Muslime hatten einfach nicht verstanden, dass es uns eine Ehre war, sie zu verspotten. Statt sie auszugrenzen, werden Muslime nämlich von der Wahrheit genauso behandelt wie andere Gläubige. Damit Komik entlarvend wirkt, müssen Regeln verletzt werden. Vor allem jene Regeln, die angeblich von einer höheren Macht aufgestellt wurden und in deren Auftrag Glaubensritter anderen Menschen etwas wegnehmen oder verbieten wollen.

      Aber nicht nur religiöser Wahn treibt seine Blüten. Auch Politiker können einen mullahartigen Eifer entwickeln. Wie die Grünen, deren Sprecher im Jahr 2001 die taz vom Parteitag verbannte, weil die Wahrheit zu ihrem zehnten Geburtstag die Seite eins der taz übernahm und zu einem Riesenfoto der Grünen-Chefin Claudia Roth im bunten Abendkleid titelte: »Die Gurke des Jahres«. Mit dem beeindruckenden Titel schaffte die Wahrheit es das erste Mal in die »Tagesschau«.

      Ein weiteres Mal gelangte die Wahrheit im Jahr 2006 mit der »Kartoffel-Affäre« in die Nachrichten. Peter Köhler schrieb in seiner Reihe »Schurken, die die Welt beherrschen wollen« über den polnischen Präsidenten Lech Kaczynski. Die Warschauer Spaßbremse fühlte sich derart angegriffen, dass die Satire mit dem Titel »Polens neue Kartoffel« zur Staatsaffäre wurde und zu diplomatischen Verwicklungen führte. Kaczynski ließ mit der offiziellen Begründung, dass er Bauchgrimmen habe, ein deutschfranzösisch-polnisches Treffen auf höchster Ebene ausfallen und verlangte vom deutschen Außenminister, dass er sich für die Wahrheit-Satire entschuldigte. Dem Autor Peter Köhler und den verantwortlichen taz-Redakteuren wurden von der polnischen Justiz rechtliche Konsequenzen angedroht, da der Tatbestand der Beleidigung eines Staatsoberhaupts erfüllt worden sei. Halb belustigt, halb fassungslos griffen Medien aus aller Welt die »Kartoffel-Affäre« auf. Ein Jahr später wurde das Verfahren stillschweigend eingestellt.

      Die Wahrheit hat einige Gerichtsprozesse überstanden – meist als Sieger. Manchmal aber auch nicht. Deshalb gibt es Artikel, die leider aus rechtlichen Gründen in diesem Buch nicht mehr veröffentlicht werden dürfen, wie zum Beispiel die Satire von Gerhard Henschel mit dem Titel »Sex-Schock! Penis kaputt?« (8.5.2002). Darin wurde behauptet, dass der Chefredakteur der Bild-Zeitung, Kai Diekmann, eine Penisverlängerung an sich habe vornehmen lassen. Diekmann verklagte daraufhin die taz. Im sogenannten Penis-Prozess wurde der taz gerichtlich untersagt, den Artikel noch einmal zu veröffentlichen. Allerdings erhielt Diekmann auch nicht das von ihm geforderte Schmerzensgeld, da er in seiner exponierten Stellung als Chefredakteur der Bild-Zeitung mehr Kritik erdulden müsse als andere Personen des öffentlichen Lebens, wie das Gericht urteilte. Damit schrieb die Wahrheit zumindest Medienrechtsgeschichte. Der Bild-Chefredakteur aber bekannte später in einem Interview, dass der »Penis-Prozess« die größte Dummheit seines Lebens gewesen sei.

      Bei soviel öffentlich wirksamen Kontroversen blieben Konflikte innerhalb der taz nicht aus. Und selbstverständlich hat die Wahrheit auch Fehler gemacht. Einmal handelte sie sich eine Rüge des Deutschen Presserats ein, auf die sie nicht stolz ist. Denn auf der Wahrheit-Seite wurde eine Todesanzeige verspottet, und der Wahrheit war nicht klar, wie weit sie zu weit gegangen ist. Aber legen wir über all den Ärger mit der taz-Chefredaktion, mit taz-Kollegen oder mit taz-Lesern lieber das Schweigen des Mäntelchens der Geschichte. Sonst würde der Rahmen dieses Buchs gesprengt.

      Bedauerlicherweise kann hier einiges nicht gezeigt werden, das wesentlich für die Wahrheit ist. An erster Stelle sind da die einzigartigen Cartoonstreifen von ©Tom: der touché, den ©Tom seit nunmehr 18 Jahren täglich außer sonntags frisch zeichnet. ©Tom ist damit neben Ralf Sotscheck, der ebenfalls seit 18 Jahren dabei ist und jeden Montag seine Kolumne auf der Seite veröffentlicht, der beständigste Mitarbeiter der Wahrheit. Hier können nur zwei touché stellvertretend für ©Toms unglaublich konstante Komik abgebildet werden. Auch fehlen hier die regelmäßigen Cartoons und Zeichnungen von Rattelschneck oder Ari Plikat oder Anna Zimmermann, die immer wieder die Wahrheit-Seite zieren.

      Nicht vergessen werden darf an dieser Stelle ein Element der Wahrheit, das manchmal arg am Rande steht und viel zu wenig gewürdigt wird, obwohl es seine treuen Fans hat: das samstägliche Rätsel »wahrhaftig und verborgen«, das Ulrich Danielowski beharrlich für die Wahrheit produziert und mit Fragen spickt, die schon manchen Kopf zum Rauchen gebracht haben.

      Auch nicht wiedergegeben werden können all die vielen Fotogeschichten der vergangenen Jahre: So zeigte die Wahrheit zum Beispiel »weltexklusiv: Jacques Chirac nackt auf dem Balkon« (31.8.2001). Sie präsentierte »Die Achsel des Bösen« (7.2.2002). Eine ganze Boulevardseite widmete die Wahrheit einem schockierenden Bericht: »Effe spannt Kanzler Frau aus – Deutschland geschockt« (6.5.2003). Sie begrüßte den Kokainfreund Christoph Daum mit Fotos von berühmten Koksern: »Willkommen im Klub« (13.6.2003). Die Wahrheit fragte nach dem Tod von Johannes Paul II.: »Wer wird der nächste Papst?« und bot Kim Jong Il, Marcel Reich-Ranicki, Alice Schwarzer, Fernandel, Mel Gibson und Erwin Teufel als Nachfolger an. Während des Streits um die Mohammed-Karikaturen bildete die Wahrheit eine Woche lang den »Mohammed des Tages« ab: von Mohamed Zidan bis Muhammad Ali (7.-11.2.2006). Nach dem Ende der Fußballweltmeisterschaft 2006 enthüllte die Wahrheit »das schwarze Loch nach der WM« (10.7.2006). Und während der Europameisterschaft 2008 bewies sie mit den Flaggen von Ländern wie »Badvorlegistan« oder »Leopardien«, die in deutschen Städten aus Fenstern und von Balkonen hingen, dass nicht jedes Land Europameister werden kann (20.6.2008).

      Nicht annähernd gewürdigt werden können hier die Aktivitäten des Wahrheitklubs, dessen bekannteste Mitglieder wohl Harry Rowohlt und die Hartmetaller von Manowar sind. Mit seinen rund 1.300 Mitgliedern steht der Vorstand das Jahr über im regen Austausch, und zweimal jährlich tagt der Vorstand öffentlich: auf der Leipziger und auf der Frankfurter Buchmesse. Berühmt-berüchtigt sind ©Toms Spiele für Wahrheitklubmitglieder, die offenbar alles mitmachen, solange es nur der Klubdevise dient: »ridentum dicere verum«. Lachend die Wahrheit sagen.

      Im Rahmen des Wahrheitklubtreffens wird zudem der wahrscheinlich wichtigste Journalistenpreis Deutschlands verliehen: Der »Jieper-Preis«. Er handelt sich um einen Unterbring-Wettbewerb, denn alle Jahre wieder müssen Journalisten einen denkwürdigen Satz in einer Zeitung oder einer Zeitschrift unterbringen, um die Auszeichnung zu erhalten. Im Jahr 2000 lautete der Satz: »Wer Jieper hat, muss schmackofatzen«, und die FAZ gewann als Preis den stets ausgelobten Gran Duque d’Alba oder »die Große Ente«, wie der Brandy auch in der Wahrheit genannt wird. Im Jahr 2004 gewann erstaunlicherweise erneut die FAZ, der Unterbring-Satz hieß – weil Arabien Partnerland der Frankfurter Buchmesse war – »Wer kalift, muss mutaboren«. Im Jahr 2006 sollte in Anlehnung an die »Kartoffel-Affäre« der Satz »Beim Wullacken niemals mit dem Mottek wackeln« untergebracht werden. Erstmals ging der »Jieper-Preis« an einen Verlag, den Umschau-Verlag in Neustadt, der in dem Kochbuch »Kartoffeln« die Affäre aufgriff und den Satz prominent erwähnte. Im Jahr 2008 gewann den Jieper-Preis schließlich das Berliner Stadtmagazin Zitty, das den Satz »Wer einmal mit Obama pennt, gehört schon zum Establishment« als Aufmacherfoto der Titelgeschichte präsentierte.

      Wie also eine Ordnung hineinbringen in all die wild sprießenden Geschichten und Themen der Wahrheit? Aber will man das überhaupt? Alles