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Sternstunden der Wahrheit


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      Michael »Moses« Ringel (6.2.2001)

      Einmal schrieb ich ein Gedicht,

      las es schließlich durch und dachte:

      »Ei wie lustig! Ist es nicht?«,

      dachte ich und schrie und lachte

      mich kaputt, haha!, und rollte

      auf den Boden, lachte weiter,

      schrie, weil’s gar nicht enden wollte:

      »Hihihi! Achgott, wie heiter!«,

      rollte, kugelte durchs Zimmer,

      knallte gegen Tisch und Stühle,

      das tat weh und wurde schlimmer:

      Heiterkeit und Schmerzgefühle

      küssten sich, der Tisch fiel polternd

      auf den prustend frohen Deppen,

      welcher so, sich selber folternd,

      anfing, sich zur Tür zu schleppen,

      wo er lachte, weinte, lachte,

      als das Marmorkanapee

      ihm auf Bauch und Schädel krachte –

      hihi, aua, tat das weh!

      Thomas Gsella (23.8.2001)

      Namensvettern können zu einem Problem, einer Belastung, einem Knackpunkt werden. Oft werde ich, Meinhard Rohr, zum Beispiel mit Reinhard Mohr oder Reinhard Mohn verwechselt. Der eine ist Spiegel-Redakteur, der andere Bertelsmann-Chef, ich hingegen gehörte früher leider zu den Linken. Für jeden meiner montäglichen Kommentare zur Lage der Nation erhalte ich ein Honorar, ein Salär, einen Obolus. Jetzt aber hat die Honorarabteilung der taz die mir zustehenden 19,38 Euro an Reinhard Mohr überwiesen. Zum Glück nicht an Reinhard Mohn. Geld hat der Groß-, Schwer- und Stark-Industrielle genug. Wie es um Reinhard Mohr steht, weiß ich nicht, hungern, dürsten und knapsen wird er wohl nicht. Dafür sieht man ihn zu oft in Berlin-Mitte durch die Bars, Cafés und Restaurants flanieren, wo er mit der erfahrenen Nase des Feuilletonisten dem Zeitgeist ein Schnäppchen schlägt. Manchmal sogar ein Rad. Auf dem Laufsteg der Neuen Mitte. Wo jeder Spaß mindestens 19,38 Euro kostet. Diese Kolumne erscheint in loser, aber leider häufiger Folge.

      (26.8.2002)

      Ich bin sprach-, stimm- und schreiblos. Und werde es auch in Zukunft sein. Nach den entsetzlichen, schockierenden und bestürzenden Ereignissen der vergangenen Woche bin ich wie gelähmt. Kein Wort, kein Satz, kein Gedanke kommt mir über die Lippen. Manche mögen dies als Erfolg eines terroristischen Anschlags werten, aber nichts kann mehr so sein, wie ich war. Das Ende der Großdenkergesellschaft ist da. Wie schon einmal das Ende der Geschichte gekommen war und das Ende der Linken, denen ich leider früher auch angehörte. Als Reflex auf das grauenhafte Geschehen wird eine neue Zeit der Leichtigkeit und Wertfreiheit aufziehen, die Menschen wollen vergessen, die Gesellschaft will die Untiefen ausloten. Meine Welt wird dies nicht sein. Ich gehe da d’accord mit dem großen Analytiker Peter Scholl-Latour, der das Ende der Denkgesellschaft laut einläutete. Ich verabschiede mich deshalb heute, an diesem Montag, Monday und Lundi, für immer von meinen treuen Lesern. Gott bless you.

      Diese Kolumne erschien in loser, aber leider häufiger Folge.

      (17.9.2001)

      Seit Jahren wettern wir gegen das von vielen Journalisten verwendete, dummdeutsche Wörtchen »zunehmend«. Genützt hat es nichts. Was auch wieder sein Gutes hat. Können wir uns doch stets aufs Neue an meisterlich geklöppelten Widersprüchen erfreuen. Wie gestern bei einer Meldung der Nachrichtenagentur AFP: »Deutsche verzichten zunehmend auf Abführmittel«, heißt es in einer Nachricht. Besser als die Franzmann-Agentur kann man ein Oxymoron nicht mehr ausdrücken.

      (2.10.2001)

      Beim soeben ins Leben gerufenen Wahrheit-Wettbewerb »Das dümmste Wort des Jahres« steht der Sieger seit gestern fest. Geschaffen wurde das Spitzensprachgebilde von der im Neologismus-Sport erfahrenen Nachrichtenagentur dpa, die mit ihren Wortneuschöpfungen schon viele Auszeichnungen (»Gurke des Tages«) von der Wahrheit erhalten hat. Doch am Donnerstag gelang der Deutschen Presse Agentur ein Coup, der den bisherigen Favoriten Agence France Press (AFP) frühzeitig im Jahr vom Siegerpodest stürzte. Denn dpa meldete gestern: In dem Ruhrstädtchen Wetter liege am Sonntag das »Mountainbike-Mekka«. Mountainbike-Mekka! Bitte jetzt das »Mountainbike-Mekka« mit den Sprechwerkzeugen herstellen. Aaaah, dieser Klang, diese Alliterationen, dieser vollkommene Dumpfsinn, der sofort schöne Bilder entstehen lässt: Mountainbiker in weißen Gewändern umrunden die nicht würfelförmige, sondern radrunde Kaaba in Wetter-Mekka. Da kann man nicht meckern und wird der dpa den wohl verdienten Preis gern zusprechen.

      (9.8.2002)

      Eine dringend notwendige Warnung vor einem drohenden Wort-Revival

      Noch lässt sich nichts Definitives sagen, aber die Zeichen mehren sich in einem Maße, dass wohl von einem Menetekel gesprochen werden darf: Das Tabu ist wieder da!

      In Deutschlands bedrückendsten Stunden, den momentan von windigen Geschäftemachern wieder als schwer en vogue angedienten Achtzigerjahren, hatte das Tabu Konjunktur. Nicht von ungefähr war es der Kommerzsender RTL, der jenes dunkle Jahrzehnt zur Show verniedlichte und hernach, mit Pressemitteilung vom 6. August 2002, auch das Tabu wieder ins Spiel brachte. Mit der Macht des Marktfürers nämlich wird RTL im Herbst den Versuch unternehmen, mit Hilfe und im Zuge des Fernsehfilms »Sektion – Die Sprache der Toten« »das Thema ›Sektion‹ (medizinischer Ausdruck für Leichenöffnung) zu enttabuisieren.« Enttabuisieren! Was, weil es sich um einen so genannten Hintertürpilotfilm handelt, der leider viel zu oft eine Serie nach sich zieht, über kurz oder lang noch üble Folgen haben wird.

      Die erste ließ prompt nicht lange auf sich warten. Am 21. August 2002 nahm wiederum bei RTL der Parteienforscher Professor Peter Lösche das Unwort in den Mund, als er wissenschaftlich fundiert orakelnd unkte, dass jede kommende Regierung egal welcher Couleur dem Volke bittere Pillen verabreichen werde, auch wenn diese ungeschönte Wahrheit zu Wahlkampfzeiten einem, na?, genau: Tabu unterliege.

      Der beinahe so beliebte wie beleibte Schwerdenkerdarsteller Dieter Pfaff hieb mit mächtiger Pranke in dieselbe Kerbe, wenn man der FAZ vom 23. August 2002 Glauben schenken darf. Was an dieser Stelle ausnahmsweise geschehen soll, auch wenn unsereins nichts zu verschenken hat. So aber schrieb die FAZ: »›Natürlich hat Fitz geholfen‹, sagt Dieter Pfaff an einem regnerischen Morgen in Baden-Baden, wo sich der Schauspieler gerade anschickt, mit seiner neuen Rolle ›das Tabu zu brechen‹.«

      Diskret verschweigt die Autorin die näheren Umstände des waghalsigen Experiments. Nahm Pfaff tüchtig Anlauf, als er aufs Tabu losstürmte? Genügte ihm sein gewichtiges Auftreten? Langte er mit bloßen Händen zu? Wer’s weiß, gebe Bescheid.

      Nachgeborene werden vielleicht fragen, was es überhaupt auf sich habe mit dem Tabu, und ihnen soll Antwort zuteil werden. Führende Figur der Anti-Tabu-Bewegung der Achtzigerjahre war einwandfrei Sina Aline Geissler, die Muse aller aktuellen Bekenntnis-Talkshows, die sich in Büchern wie »Immer, wenn ich mich verführe. Weibliche Selbstbefriedigung – ein