Klaus Mertes

Grenzgänger


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glauben, der Einfluss meines Vaters sei größer gewesen. Aber so ist das nicht. Der Glaube war eine starke gemeinsame Basis. Beide hatten ein sehr reflektiertes Verhältnis zum eigenen Glauben. Bei meinem Vater war es eher geprägt durch den Blickwinkel klassischer Philosophie und Theologie, wobei er sich eine urtümliche Lust am Glauben bewahrte. Bei meiner Mutter war es eine sehr große Feinfühligkeit, psychologische Reflexion und Sinn für moderne Kunst und Naturwissenschaft.

      Der Vater – eine starke, charismatische Persönlichkeit

      Mein Vater stammte, wie gesagt, aus der Eifel. Er war der Jüngste von fünf Kindern. Eine Schwester von ihm ist ganz früh gestorben. Er war tief geprägt durch den Eifeler, den Gerolsteiner Katholizismus, durch die Begegnung mit den Pfarrern, durch die Bildungswelten, die ihm im Regino-Gymnasium in Prüm eröffnet wurden.

      Dann kam der Zweite Weltkrieg. Die Immunisierung gegen den Nationalsozialismus hat er – wie er immer wieder erzählte – besonders durch die Kirche erfahren. Die Verbundenheit mit der Diözese Trier blieb erhalten, auch dadurch, dass sein älterer Bruder Johannes, mein Patenonkel, Priester der Diözese Trier war. Auf Wunsch der Familie hielt 1985 der damalige Bischof von Trier, Hermann Josef Spital*, das Requiem, die Totenmesse, für meinen Vater im Bonner Münster.

      Nach dem Krieg kam mein Vater nach Bonn. Dort war die Erfahrung der katholischen Studentengemeinde ein wichtiger Punkt.

      Fasziniert war er auch von der europäischen Frage, vor allem durch die deutsch-französische Aussöhnungsbewegung. Er ging mehrfach mit bei den Studentenwallfahrten nach Chartres. In Frankreich hat er auch meine Mutter kennengelernt, die aus dem Saarland stammte.

      Für mich als Sohn war er eine starke, ja charismatische Persönlichkeit. Er war intellektuell unglaublich beweglich und präzise. Wir haben zu Hause schon sehr früh, bei Tisch, über theologische und philosophische Fragen gesprochen. Aber seine Intellektualität war zugleich geprägt von einer ganz starken religiösen Bindung. Wenn wir unter dem Weihnachtsbaum saßen, hat er uns eine halbe Stunde lang aus den Werken Romano Guardinis* vorgelesen. Romano Guardini war einer der großen Namen für ihn. Ebenso Josef Pieper*, ein bedeutender katholischer Philosoph zu jener Zeit.

      Er ist dann in den diplomatischen Dienst eingetreten. Seine Leidenschaft wurde das Thema der Europäischen Vereinigung.

      Studiert hat er Romanistik und Geschichte. Später war man oft der Auffassung, er sei Jurist, weil er immer stark völkerrechtlich argumentiert hat. Aber er war eben Romanist und Historiker.

      Das andere große Thema, das ihn früh schon gepackt hat, war die deutsch-israelische Aussöhnung.

      Die Erneuerung des Zweiten Vatikanischen Konzils* hat er innerlich mitvollzogen, selbst wenn ihm der Abschied von geliebten, gewohnten Formen auch manchmal weht tat. Das Konzil spielte bei uns zu Hause eine große Rolle.

      Dann auch das Mitgehen mit der Ökumenischen Bewegung. Martin Luther* war bei uns ein positiv besetzter Name. Luthers Gnadentheologie hat ihn sehr beeindruckt. Als es möglich wurde, dass wir in Russland zur Kommunion in der russisch-orthodoxen Kirche gehen konnten, hat ihn das tief bewegt. Vorher hat er bei einem orthodoxen Priester gebeichtet. Das war für ihn eine wichtige ökumenische Erfahrung.

      In Russland war für ihn noch einmal ganz tief und wichtig die Auseinandersetzung um die europäische Einigung. Vor allem die Überwindung der Spaltung Deutschlands. Da war er ganz auf der Seite Konrad Adenauers. Auch in der Frage der Westbindung. In der Frage der Wiederbewaffnung der Bundesrepublik hat er die Position Adenauers übernommen. Das führte zu einem inneren Bruch mit dem später so genannten Linkskatholizismus, der vor allem durch Walter Dirks* verkörpert wurde. Das Gespräch über diese Themen blieb uns in der Familie auch Jahre später erhalten, insbesondere in den Zeiten der Friedensbewegung der 1970er- und 80er-Jahre: Wie kann ein wohlverstandener christlicher Pazifismus, und damit das Gebot der Feindesliebe und der Gewaltlosigkeit, verbunden und versöhnt werden mit einer Politik, die einen politischen Gebrauch der Waffen, wie es das Abschreckungsszenario der Siebziger-, Achtziger- und Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts vor Augen führte, mit einschloss? Oder ist das unvereinbar? Wie ist das ethisch zu rechtfertigen? – Das war für uns ein ganz großes und wichtiges Thema.

      1966 ist er von Moskau nach Deutschland zurückgekehrt. 1969 kam Willy Brandt* an die Regierung. Das war aus seiner Sicht eine Wende. Er wurde dann von Helmut Kohl* als Fachmann für Ost-West-Beziehungen „entdeckt“ und zum Bevollmächtigten von Rheinland-Pfalz beim Bund ernannt, um vonseiten der CDU-Länder im Bundesrat Einfluss zu nehmen auf die Debatte um die Ratifizierung des Moskauer und des Warschauer Vertrages. Die Auseinandersetzung um die Ostpolitik war für ihn eine sehr bewegte Zeit. Sie schlug auch bei uns in der Familie hohe Wellen. Ich erinnere mich an einen Abend, an dem das Dokument des Viermächteabkommens über Berlin von 1971 auf dem Tisch lag. Den englischen Text des Abkommens hatte er meinem Bruder Michael gegeben. Mir gab er die offizielle Übersetzung der Bundesregierung. Er selbst saß vor dem Text im „Neuen Deutschland“, der SED-Parteizeitung der DDR. Ich musste den offiziellen Text vorlesen. Und immer, wenn in der Übersetzung im „Neuen Deutschland“ ein anderer Begriff auftauchte, wurde das vermerkt und diskutiert, wie er in den jeweils anderen Übersetzungen gebraucht und angewandt wurde. Zum Beispiel der Begriff ,ties‘, Bindung. West-Berlin ist eine Stadt mit ,ties‘ zur Bundesrepublik Deutschland. In der bundesrepublikanischen Übersetzung stand ,Bindungen‘, und in der DDR-Übersetzung stand, dass West-Berlin eine Stadt mit ,Verbindungen‘ sei. Das war natürlich eine andere Gewichtung. Sprache war für meinen Vater von zentraler Bedeutung. Er war der Auffassung, dass sich Politik an Sprache entscheidet. Deswegen war er auch ein Gegner von Formelkompromissen. Aber letztlich musste er auch einsehen, dass Formelkompromisse unumgänglich waren, wenn man politisch weiterkommen wollte.

      In dieser Zeit hat er sich auch entschieden, in die praktische Politik zu gehen. Er hat zum ersten Mal 1972 im Eifeler Wahlkreis 153 kandidiert. Von da ab hieß er im politischen Sprachgebrauch nur noch „Mertes (Gerolstein)“. Dann wurde er außenpolitischer Fachmann der CDU/CSU-Bundestagsfraktion. Als dann 1982/83 die Wende von Helmut Schmidt* zu Kohl kam, wurde er Staatsminister im Auswärtigen Amt bei Hans-Dietrich Genscher*, dem Außenminister.

      Harmonie war wichtig

      Mein Vater hat meine Mutter, wie schon erwähnt, in Paris kennengelernt. Das war bei einer Diskussion in der katholischen Studentengemeinde von Paris über die Frage, ob das Saargebiet wieder unter deutsche Hoheit kommen sollte. Mein Vater war dafür, meine Mutter auch. In dieser Hinsicht gab es also kein Problem mit der Familie meiner Mutter. Aber meine Mutter erzählt gerne die Geschichte, dass mein Vater von ihrer Familie zunächst ein bisschen skeptisch betrachtet wurde; die Eifel galt im vergleichsweise weltläufigen Saarbrücken als ziemlich rückständig. Doch als mein Vater sich dann ans Klavier setzte und Schubert-Lieder sang, war das Eis gebrochen.

      Mein Vater war ein herzlicher Mensch. Die Familie war sein Refugium, sein Zufluchtsort. Deswegen war ihm auch Harmonie in der Familie wichtig. Das konnte dazu führen, dass Konflikte in der Familie, die nicht ausbleiben, von ihm eher als emotionale Belastung empfunden wurden. Da war eine seiner Grenzen. Meine Mutter war da stärker. Sie konnte emotionale Konflikte auf ihren sachlichen Kern zurückführen und so entschärfen.

      Eine oft wiederkehrende Meinungsverschiedenheit meiner Eltern bezog sich darauf, dass mein Vater durch seinen Beruf oft außer Haus und für die eigene Familie kaum da war. Viel später habe ich das, obwohl ich sehr stolz auf meinen Vater war, auch als einen Mangel empfunden. Ich erinnere mich, dass er mich zwei, drei Wochen nach meinem mündlichen Abitur fragte, wann ich denn eigentlich mein Abitur mache. Das hat mich nicht verletzt, sondern es hat mich eher belustigt. Wenn ich heute die narzisstischen Festspiele rund um das Abitur sehe, muss ich sagen: Das ist ja auch nicht mehr normal. – Die Ferne des Vaters war sicher ein wichtiger Punkt. Andererseits war er, wenn er dann einmal da war, so stark präsent, dass es vielleicht auch gut war, dass er nicht zu oft im Hause war.

      Mein Vater und meine Mutter haben sich geliebt, ganz sicher. Das war für uns in der Familie ohne Zweifel. Aber: Es war diskret.

      Die Mutter – Im entscheidenden