Klaus Mertes

Grenzgänger


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Familie. Ihr Vater war, wie gesagt, Arzt. Meine Großmutter mütterlicherseits war eine gute Pianistin. Eine Erfahrung mit meiner Mutter war prägend: Einmal spazierten wir, in der Pariser Zeit, durch den Bois de Boulogne. Da fiel meine Schwester in den See. Meine Mutter ist, ohne zu zögern, in ihren Kleidern ins Wasser gesprungen und hat sie gerettet. Das ist ein unauslöschliches Bild der Erinnerung: dass sie im entscheidenden Augenblick Leben rettet.

      Meine Mutter ist eine Frau, die sich nicht gerne in der Öffentlichkeit zeigt. Positiv gesagt: Sie ist nicht eitel. Sie ist zurückhaltend. Sie hat immer Wert darauf gelegt, dass wir Kinder „normal“ bleiben, dass wir uns nicht als die scheinbar tolle Familie inszenieren, nicht protzig auftreten. Darauf achtete sie. Es war ihr eher unangenehm, wenn mein Vater voller Stolz seine Kinder in jeder Kirche, in die wir reinkamen, präsentierte, und sagte: „Wir können auch gerne gregorianische Choräle während des Gottesdienstes singen.“ Da war sie zurückhaltend, ja scheu.

      Sie brachte die Themen in die Familie ein, die meinem Vater fremd waren. Nachdem mein Vater in die Politik gegangen war, machte sie eine Ausbildung in der Telefonseelsorge und hat dann dort auch praktisch gearbeitet. Dabei ist sie natürlich auf Lebensthemen gekommen, die in unserer Familie zuvor gar nicht groß debattiert wurden. Zuvor ging es um Außenpolitik, Philosophie, Thomas von Aquin*, Guardini, Luther und „renouveau catholique“*. Für Fragen wie Sexualität, Homosexualität, voreheliche Beziehungen, zerbrochene Ehen hatte meine Mutter ein Ohr. Deswegen wurde sie für mich über Jahre hinweg eine sehr wichtige Gesprächspartnerin. Ich konnte mit ihr Fragen besprechen, die meinen Vater – so sehe ich es im Nachhinein – überfordert hätten.

      Wenn mein Vater einmal eine Illustrierte, eine „Quick“ oder einen „Stern“ kaufen musste, weil dort ein wichtiger politischer Artikel stand, dann hat er diesen Artikel ausgeschnitten und den Rest wegen der Bikini- und Nacktbilder gleich in den Müll geworfen. Manchmal lagen wir Geschwister abends vor dem Fernseher und guckten uns irgendeinen Film an. Dummerweise kam mein Vater immer bei den Stellen rein, wo sich Mann und Frau knutschten, und sagte: „Müsst ihr euch so etwas angucken?“ Er lebte in den Diskretions- und Schamgrenzen seiner Zeit, die immer mehr zu schwinden begannen.

      1985 ist mein Vater ganz plötzlich, drei Tage nach einem Schlaganfall, gestorben. Selbstverständlich war das für uns alle ein Einschnitt. Was der Tod eines Vaters bedeutet, begreift man erst langsam, im Laufe von Jahren. Direkt danach beschäftigten uns viele Fragen. Die ganze Ernte dieses Lebens wurde für uns angesichts seines Todes auf einmal sichtbar: Die vielen Kondolenzschreiben, die Besuche, das Bemühen, das Erbe meines Vaters zu sichern. Wir haben das Requiem gemeinsam vorbereitet. Die Sprache des Glaubens der katholischen Kirche hat uns dabei die Vorlage gegeben.

      Meine Mutter ist dann relativ bald aus dem großen Familienhaus in Wachtberg-Pech bei Bonn ausgezogen in eine Wohnung in Bad Godesberg. Das empfand ich immer als einen starken Ausdruck für ihre Auffassung, dass das Leben weitergeht. Sie trauerte, aber sie haderte nicht. Sie konnte mit Dankbarkeit auf alles Gute zurückblicken, das sie im gemeinsamen Leben mit meinem Vater erfahren hatte.

      Die Religiosität meiner Mutter ist, wie die des es Vaters war, ganz tief. Sie ist aber zugleich angefochtener. Und darin ist sie mir dann auch wieder näher.

      Die Religiosität meines Vaters hatte bei allem intellektuellen Problembewusstsein doch eine ganz tiefe Unangefochtenheit. Sie wurde aber in den Siebziger-, Achtzigerjahren des letzten Jahrhunderts auch bedroht. Es war für ihn, den Verteidiger der Nachrüstung, eine bittere Erfahrung, mit dieser Position auf Kirchentagen auftretend, dafür beschimpft zu werden. Das – und anderes in jener Zeit – hat ihn in tiefe, innere Krisen geführt. Kirche war für ihn nicht mehr nur Heimaterfahrung, sondern wurde nun auch ein Ort, an dem er infrage gestellt wurde. Das hat ihn emotional verunsichert.

      Glück und Erfahrung der Grenze

      Zusammenfassend, viele Einzelheiten auslassend, kann ich sicher sagen: Ich hatte eine glückliche Kindheit. Es gab natürlich auch die Brüche und Abbrüche. Ich bin auch an Grenzen gestoßen. Die glücklichen Erfahrungen haben auch Erwartungen an „Familie“ geweckt, die einfach zu hoch waren. Ich lernte später, dass ich eine Verantwortung für mein Leben hatte, die ich nicht der Familie aufbürden durfte.

      Irgendwann musste ich dann die Kindheit mit der Wirklichkeit des Erwachsenseins abgleichen. Das war ein sehr schmerzlicher Prozess. Die relativ späte Ablösung von dieser kindlichen Identifikation mit der Familie hat mich Kraft gekostet. Ich musste lernen: Was kann ich heute als Erwachsener von der „alten“ Familie erwarten und was und wo ist da jetzt meine „neue“ Familie, der Jesuitenorden, die Menschen, die mir neu begegnen werden? Ich lernte, eigene überzogene Erwartungen zurückzunehmen.

      Wachsende Interessen – Berufswünsche

      Eine spannende Sache im Kindheits- und Jugendalter ist die Frage nach dem Berufswunsch. Interessanterweise war bei mir schon sehr früh das Thema „Mönch“ gegenwärtig. Auf den vielen Reisen durch Frankreich haben wir oft Benediktinerklöster besucht. Die Mönche und ihr Gesang haben mich tief berührt. Dann gab es in Frankreich damals auch neue geistliche Bewegungen. In ihnen herausragende Gestalten, die auch meine Eltern faszinierten, wie Charles de Foucauld*, wie Madeleine Delbrêl*. Große Namen – nicht nur für die Eltern, auch für mich. Denen habe ich mich angenähert. Ich fand ihr Eremitsein faszinierend.

      Begeistert war ich auch von der Begegnung mit der russischen Literatur, von der russischen Frömmigkeit. Von den Starzen* zum Beispiel. Ich spürte: Religion hat auch etwas zu tun mit radikalen Lebensentwürfen.

      In der nachträglichen Reflexion spielt auch etwas anderes eine große Rolle: In den Ostertagen war es in unserer Familie üblich, dass auf dem Grundig-Plattenspieler die Vertonung der Ostergeschichten von Heinrich Schütz* erklang. Da wurde Jesus mit einer Doppelstimme gesungen, Bariton und Falsett-Tenor. Ich dachte immer, der Falsett-Tenor sei eine Frauenstimme, bis mir meine Mutter sagte, das sei eine Männerstimme. Wir Geschwister haben uns gekugelt vor Lachen über diese lustige Männerstimme. Irgendwann, im Alter von 12 oder 13 Jahren, fand ich diese Musik schön. Auf dem halbstündigen Weg mit dem Fahrrad zur Schule habe ich diese Melodien gesungen. Dabei kam auch ein Gefühl von Neid auf: Die Jünger durften den Auferstandenen direkt erleben, und ich muss das denen jetzt, zweitausend Jahre später, glauben. Das fand ich ungerecht. Ich wollte diese Erfahrung selber machen.

      Da erwachte das Interesse an Figuren wie Charles de Foucauld und Madeleine Delbrêl und an den Mönchen. Mir wurde klar: Wenn man solche Erfahrungen selber machen will, dann muss man auch bereit sein, etwas einzusetzen. Das bekommt man nicht ohne Preis. So ist die Sehnsucht entstanden nach einem Beruf, der sich mit dem explizit Religiösen verbindet.

      Den Eros in der Musik ausgelebt

      Was den Eros betrifft, so hatte ich ziemlich rigide Ansichten. Zum Beispiel: Ich küsse ein Mädchen erst dann, wenn ich mich auch entschieden habe, es zu heiraten.

      Ich musste also zuerst klären, ob ich ein zölibatäres Leben wirklich will. Vorher kam das Thema „Mädchen“ erst gar nicht dran. Mehrere Jahre habe ich mich allerdings in Constanze verliebt. Das ist die weibliche Hauptrolle in Mozarts Oper „Die Entführung aus dem Serail“. Ich hörte sie 1966, als 12-jähriger Junge, auf einer Platte, gesungen von Maria Stader*. Da habe ich zum ersten Mal, jedenfalls für mich erinnerlich, den Eros gespürt. So etwas Herrliches! Ich brauche mir heute die Entführung aus dem Serail gar nicht mehr auf CD oder in der Oper anhören. Ich muss mich nur hinsetzen, dann höre ich sie schon. So etwas Schönes! Ich habe mich verliebt in Maria Stader. Wenn ich Opern gehört habe, habe ich alle Liebesarien mitgesungen. Da habe ich den Eros singend ausgelebt.

      Auch wenn ich selber musiziert habe. Dann habe ich mich in manche Musikerinnen, mit denen ich musiziert habe, verliebt. Auch beim Chorsingen war das so. Ich hatte dann auch Zweifel, ob es nicht zu früh sei, mich für ein explizit religiös-zölibatäres Leben zu entscheiden. Ich müsste doch erst das Leben ganz kennenlernen! Das war dann die Zeit, in der ich dachte, ob ich nicht doch Musiker werden sollte. Mein Chorleiter hat mir vorgeschlagen, meine Stimme ausbilden zu lassen, weil ich angeblich einen Heldentenor hatte. Den