Klaus Mertes

Grenzgänger


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andere Frage war, ob ich nicht in die Politik gehen soll. Politik hat mich auch sehr fasziniert.

      Ich bin dann zunächst zur Bundeswehr gegangen. Das war damals ein Bekenntnis gegen den politischen Mainstream in meiner Generation. Ich kam zum Stabsmusikkorps. Da ging es relativ harmlos und ziemlich unmilitärisch zu. Ich konnte den längeren Teil meiner Dienstzeit als Bratschist mit dem „Streichquartett der Bundeswehr“ durch die Lande fahren und konzertieren.

      Dann habe ich auch noch zwei Jahre Latein, Griechisch und Russisch in Bonn studiert. Das war ein Kompromiss: Einerseits nahe an meinen Interessen studieren, aber nicht Philosophie und Theologie.

      Aber dann habe ich gesagt: Ich muss es jetzt einfach wagen, mit meiner Sehnsucht einen Schritt zu machen, und sehen, ob das klappt oder nicht.

      Scherzhaft sage ich heute gelegentlich: Ich hatte zwei Berufswünsche. Ich wollte Musiker werden und ich wollte Politiker werden. Beides kann ich in meinem heutigen Beruf gut miteinander verbinden: Ich kann öffentlich singen und öffentlich reden.

      Letztlich war mein Weg bis zur Berufsentscheidung dann doch ein gerader Weg. Ich konnte die Entscheidung nicht mehr aufschieben. Das Drängen war da, die Sehnsucht war da. Dass es dann der Jesuitenorden war, in den ich eingetreten bin, hing damit zusammen, dass ich als Schüler einer Jesuitenschule, dem Aloisiuskolleg in Bonn/Bad Godesberg, Jesuiten begegnet war. Im Blick auf die mögliche Variante „Benediktiner“ gab es die Faszination des gemeinsamen Singens. Das habe ich längere Zeit überlegt. Aber da war dann, durch die lange Schulzeit bei den Jesuiten bedingt, die Faszination des Intellektuellen (das ich den Benediktinern natürlich nicht absprechen will), die Möglichkeit, wirklich kritisch denken zu dürfen, stärker. Meine Lehrer auf der Jesuitenschule waren oft religionskritischer als die Religionskritiker. Wir haben Marx, Freud und Feuerbach richtig durchgearbeitet. Als ich an der Universität war, konnte ich mich mit den Linken an der Uni fundiert auseinandersetzen. Das kam alles noch hinzu.

      Aber im Kern war es das Nicht-mehr-aushalten-Können, die zunehmende Unzufriedenheit damit, die eigene Entscheidung weiter hinauszuschieben und auf irgendeine Sicherheit zu warten, die es nicht gab und nicht gibt. Das Studium von Latein, Griechisch und Russisch an der Universität in Bonn war natürlich schön. Aber es hat mich nicht erfüllt.

      Musik? Da hat mir die Eitelkeit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Ich habe vorausgesehen: Am Ende werde ich dann doch ein Leben lang kein Solist werden. Ein halbes Jahr, im Sommer 1975, war ich in Südafrika, in Durban, im Symphonieorchester angestellt. Zwischen Bundeswehr und Studium hatte ich da blind ein Stellenangebot angenommen. Nach fünf Monaten begann ich mich in den Proben eher zu langweilen. Kein gutes Zeichen. Ich habe bemerkt: Wenn schon, dann würde ich gerne ein Itzhak Perlmann* werden, dann ja. Aber das war eine Illusion! Und für ein professionelles Streichquartett war ich wohl auch nicht gut genug. Ich habe auch gespürt: Ich bin vermutlich nicht so sehr Musiker, dass die Musik mein ganzes Leben erfüllen wird.

      Die Entscheidung war gefallen – Eintritt in den Jesuitenorden

      Ich habe das Studium mit dem Vordiplom abgebrochen und bin 1977 im Alter von dreiundzwanzig Jahren in den Jesuitenorden eingetreten.

      Meine Eltern haben mich nach Münster ins Noviziat gefahren. Meine Mutter war sehr gefasst. Ich sah die Tränen der Rührung bei meinem Vater. Er konnte manchmal Tränen nicht zurückhalten. Dem Novizenmeister sagte er: „Pater Werner, ich übergebe ihnen meinen Sohn!“ Da ist insgeheim vielleicht ein eigenes Lebensthema bei ihm angeklungen. Der ältere Bruder meines Vaters, Johannes, mein Patenonkel, war Priester der Diözese Trier gewesen. Und ich bin ganz sicher, dass mein Vater lange mit sich gerungen hat, Priester zu werden. Warum er es nicht geworden ist? Sicher auch, weil er meine Mutter kennengelernt hat. Aber vor allem wohl, weil er schon vorher für sich zu dem Schluss gekommen war, dass Ehelosigkeit nicht sein Weg war. Aber er hatte ebenso wie meine Mutter eine tiefe Achtung vor dem Priesterberuf. Immer waren Priester zu Gast in unserer Familie. Johannes starb plötzlich und sehr früh, mit nur 53 Jahren. Die Mertes-Männer, scheint es, sterben früh. Das war bei meinem Vater auch der Fall. Er wurde nur 63. Nachträglich könnte ich sagen: Mein Drängen zum Priesterberuf war, familiensystemisch gesehen, etwas, das im Familiensystem meines Vaters grundgelegt war.

      Aber auch im Familiensystem meiner Mutter. Ein Großonkel von ihr, den ich allerdings nie persönlich kennengelernt habe, war auch Jesuit gewesen. Meine Mutter stand ebenfalls positiv zu meiner Entscheidung und hat sie von Anfang an gestützt und begleitet. Sie ist dann auch – zumal mein Vater immer weiter weg in der Politik war – zur wichtigeren Gesprächspartnerin für mich geworden. Sie war auch als Telefonseelsorgerin in den pastoralen und kirchlichen Fragen stärker „drin“. Ich konnte mich auch mit kritischen Fragen an sie wenden.

      Mein Vater schätzte die jesuitische Theologie. Er bewunderte Pater de Lubac*. Aus der Nachkriegszeit in der deutsch-französischen Studentenbewegung war Pater de Rivau* eine wichtige, beinahe väterliche Persönlichkeit für ihn. Auf der anderen Seite waren die Entwicklungen im Jesuitenorden in den Siebziger- und Achtzigerjahren so, dass sie nicht im Mainstream der damaligen CDU-Politik lagen. Ich erinnere mich, als ich an Weihnachten 1977 für drei Tage aus dem Noviziat nach Hause kam, an ein Gespräch, bei dem ein Professor und Freund meines Vaters dabei war. Dieser Freund war allerdings besonders konservativ, sodass es auch meinem Vater oft zu weit ging. Wie auch immer: Wir saßen am Tisch, und der Freund fing an, über die Jesuiten zu schimpfen, und sagte: „Die Jesuiten von heute sind alle Marxisten!“ Ich erinnere mich auch, dass mein Vater nicht besonders erbaut war, dass Jesuiten zum Beispiel vor Mutlangen gegen Pershing-Raketen* protestierten. Oder dass lateinamerikanische Mitbrüder, die in der Befreiungstheologie* aktiv waren, in einer Weise mit marxistischem Vokabular umgingen, die seinen ideologiekritischen Maßstäben widersprach. Er hatte zudem noch 1968/69 ein Sabbatical in Harvard absolviert und dort im Seminar bei Henry Kissinger* geforscht und gelehrt. Dass die lateinamerikanische Theologie und die dortige Kirche die USA für die Lage in Lateinamerika verantwortlich machten und Kissinger umgekehrt die Jesuiten für gefährlich hielt, brachte ihn in Loyalitätskonflikte – so meinte ich es jedenfalls manchmal zu spüren.

      Mein Vater rief mich gelegentlich an, und wir sprachen dann auch über solche Spannungen. Ich hatte dabei das Gefühl, dass er mir sein theologisches Vermächtnis übergeben wollte. Das bestand im Kern darin, mir die Relativität von Politik und die Relativität dessen, was Politik leisten kann, vor Augen zu führen. Ein wichtiger Gedanke, den er letztlich von Augustinus und Luther geerbt hatte, war, dass es gar keine Möglichkeit gibt, als Politiker „ohne Sünde“ zu entscheiden, weil die Dilemmata der Politik so sind, dass man am Ende nur noch die Hände falten und auf die Barmherzigkeit Gottes hoffen kann – aber trotzdem entscheiden muss. Das war ein „Schlüssel“, den er mir immer wieder in die Hand gegeben hat und den ich bis heute mit mir trage. Das stimmt ja auch.

      Ich habe von meinem Vater auch das Wissen geerbt, dass es wirklich schwierige ethische Dilemmata gibt, ausweglose Situationen, insbesondere dann, wenn man selbst in verantwortlichen Positionen steckt. Und dass alle, die meinen, man kann sie auf eine einfache Formel bringen, danebenliegen.

      Aber in der radikalisierten Sprache der Achtzigerjahre war eine Eindeutigkeit drin, die ihm Sorgen machte.

      Die Entscheidung für die Jesuiten war intuitiv

      Zurück zum Eintritt in den Orden. Ich bin eingetreten, ich war da, und meine Entscheidung war gefallen. Punkt! Das ging sogar so weit – das Noviziat ist ja dazu da, dass man sich zwei Jahre prüft, ob man die Gelübde ablegen will oder nicht –, dass ich gar keinen Anlass sah, mich zu prüfen, ob meine Entscheidung richtig war oder nicht. Sie war für mich klar.

      In den Großen Exerzitien des Ignatius von Loyola*, des Gründers des Jesuitenordens, werden drei Wahlzeiten, das heißt: drei Weisen der Entscheidung genannt: Die erste ist intuitiv. Bauchgefühl. Die zweite besteht in der bewussten Abwägung von Emotionen: Wo empfinde ich mehr Freude, wo empfinde ich mehr Traurigkeit? In der dritten Wahlzeit werden Pro und Contra rational gewichtet. Bei mir war es wohl die erste Wahlzeit: Bauchgefühl. Ich bin dann zwar ganz schnell in massive Verunsicherungen hineingeraten. Sie stellten aber überhaupt nicht für mich