Heinz Rüegger

Über selbstbestimmtes Sterben


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über eine mögliche Therapiebegrenzung und das Zulassen des Sterbens überfordert.

      Welche Haltung man dazu auch einnehmen mag: Wir kommen nicht darum herum, uns mit der Realität heutigen Sterbens auseinanderzusetzen. Dieses Buch ist eine Einladung, sich dieser Herausforderung zu stellen und sich auf sie einzulassen – schon bevor sich das Ende unseres Lebens abzeichnet. Getragen sind die folgenden Überlegung von der uralten Überzeugung, dass sich die Auseinandersetzung mit dem Sterben, mit der eigenen Sterblichkeit lohnt – nicht nur, um am Ende des Lebens besser mit den sich stellenden medizinischen Entscheidungssituationen umgehen zu können, sondern um bereits mitten im Leben bewusster und intensiver zu leben. Das heißt, so zu leben, dass man lebenssatt wird und zu gegebener Zeit das Leben auch loslassen kann.

      Wir hoffen, dass die folgenden Seiten dazu beitragen, dass mehr Menschen die Chance selbstbestimmten Sterbens als Ausdruck von Freiheit wahrnehmen können und einigermaßen sachkundig damit umgehen lernen. Und dass die folgenden Ausführungen zu einer offeneren Haltung der Medizin gegenüber dem Lebensende beitragen. Der Aufbau des Buches bzw. die Abfolge der Kapitel hat aus unserer Sicht eine innere Logik. Dennoch sollte es für jede Leserin möglich sein, dort mit der Lektüre zu beginnen, wo ihr besonderes Interesse liegt, und das eine oder andere Kapitel gegebenenfalls auch einfach zu überspringen. Das sollte dem Verständnis des Inhalts keinen Abbruch tun.

      An der Entstehung eines Buches sind immer verschiedene Personen und Institutionen beteiligt. Darum haben wir als Autoren Grund zum Danken: Einmal den »Erstleserinnen und -lesern« des Manuskriptes für ihre hilfreichen Rückmeldungen: Lotti Eigenmann, Ursa Neuhaus, Eva Niedermann, Markus Minder und Dr. Uwe Sperling. Ihre Kommentare haben uns bei der Überarbeitung des Textes weitergeholfen. Sodann dem Verlag rüffer&rub für die engagierte Begleitung dieses Buchprojektes insbesondere durch Anne Rüffer, die das Manuskript lektoriert hat.

       Zürich, im Juli 2020

       Heinz Rüegger & Roland Kunz

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      Menschen sind Sterbliche; ihr Leben ist endlich und geht früher oder später unweigerlich auf den Tod zu: »Wer geboren wird, muss auch sterben.«1 Das haben Menschen grundsätzlich mit anderen Lebewesen, etwa mit Tieren, gemeinsam. Ein wesentlicher Unterschied zu den Tieren besteht allerdings darin, dass Menschen um die Endlichkeit ihres Lebens wissen, auch wenn sie dieses Wissen im Lebensalltag häufig verdrängen.2 Solches Verdrängen ist in sich selbst ein Hinweis darauf, dass Menschen um ihre Sterblichkeit eigentlich wissen, sich damit aber schwertun und diese Wirklichkeit darum möglichst lange aus ihrer Existenz auszuklammern versuchen. Das gelingt umso leichter in einer Zeit, in der Sterben und Tod dank zivilisatorischen und insbesondere medizinischen Errungenschaften für die Mehrheit der in westlichen Gesellschaften Lebenden an den Rand eines langen Lebens hinausgeschoben wurde.

      Das ändert freilich nichts daran, dass unser Leben endlich ist und auf den Tod zuläuft. Der Philosoph Martin Heidegger hält darum etwas ganz Elementares fest, wenn er menschliche Existenz als ein »Sein zum Tode« oder ein »Vorlaufen zum Tode« versteht – und dies keineswegs erst im Blick auf die Sterbephase am Ende des Lebens, sondern grundsätzlich im Blick auf das ganze Leben.3

      Sterben als fremdverfügtes Schicksal

      Dabei ist zwischen Sterben und Tod zu unterscheiden, auch wenn diese Begriffe oft gleichgesetzt oder gar miteinander verwechselt werden. Von der Logik der Sprache her ist der Tod ein Zustand des Totseins, also des Fehlens von Leben in seiner psycho-physischen Dimension. Sterben hingegen ist eine Phase des Lebens, und zwar diejenige Phase am Ende des Lebens, in der sich der bevorstehende Tod abzeichnet und in der er schließlich eintritt.4

      Die Wirklichkeit des Todes ist jenseits aller irdischmenschlichen Erfahrung und entzieht sich der aktiven Gestaltung durch die Betroffenen. Sie ist deshalb auch unabhängig vom geschichtlich-kulturellen Wandel. Im Tod sind alle zu allen Zeiten gleich. Anders verhält es sich mit dem Prozess des Sterbens. Wie sich dieser vollzieht, hängt von vielerlei individuellen und geschichtlichen Faktoren ab: von bestehenden Erkrankungen, von den Möglichkeiten und Angeboten medizinischer Intervention, von der mitmenschlichen Begleitung und Pflege, von den örtlichen Gegebenheiten und von der Art, wie Menschen Leben und Sterben interpretieren und sich diesen gegenüber verhalten. Insofern ist das Sterben von Menschen vielfältig, und die diesbezüglichen Erfahrungen verändern sich im Verlauf der geschichtlich-kulturellen Entwicklung. Man kann durchaus sagen, dass unterschiedliche Zeiten und Kulturen jeweils ihren eigenen typischen Stil des Sterbens entwickeln.5

      Wie unterschiedlich die menschliche Sterblichkeit in verschiedenen Kulturen und Zeiten auch interpretiert worden ist, in einem zentralen Punkt deckte sich die Erfahrung von Menschen bis in die jüngste Vergangenheit: Sterben zu müssen und dem bevorstehenden Tod ausgesetzt zu sein war Inbegriff eines fremdverfügten Schicksals, gegen das die Betroffenen nichts ausrichten konnten. Es zwang sie in eine passive Rolle, in der sie sich nur ergeben in das fügen konnten, was ihnen widerfuhr. Der Tod wurde erfahren als eine »Schicksalsmacht, der wir zwar mit allen Fasern unserer Existenz zu entfliehen suchen, der wir aber letztlich doch nicht entkommen können«.6

      Diese Erfahrung rückt etwas für das menschliche Selbstverständnis seit Urzeiten Zentrales ins Bewusstsein: dass das Leben begrenzt ist, und zwar durch Grenzen, die der Mensch in der Regel nicht selbst zieht, sondern auf die er stößt als eine nicht selbst gesuchte Widerfahrnis. Der Tod kommt, stößt dem Menschen zu, er holt ihn, wie das in der Kunstgeschichte immer wieder mit der Gestalt des Sensenmanns zum Ausdruck gebracht wurde.7 In solchen Grenzen begegnet dem Menschen eine Macht, über die er nicht verfügt, die ihn übersteigt, die aber seinem Leben einen Horizont und möglichen Sinn gibt. Vor diesem Horizont weiß sich der Mensch auf etwas Größeres bezogen, dem er nur in der Haltung des Zulassens und Geschehenlassens gerecht werden kann.

      Der Tod und das ihn herbeiführende Sterben entzogen sich menschlicher Verfügungs- und Entscheidungsgewalt, außer bei Opfern von menschlicher Gewalt. Es war das Schicksal, das zuschlug, oder der Herr über Leben und Tod, der bestimmte. Und es war der Part des Menschen, sich ins Unvermeidliche zu fügen und die eigene Ohnmacht angesichts des bevorstehenden Todes auszuhalten.

      Medikalisierung des Sterbens

      Mit dem Aufkommen der naturwissenschaftlich orientierten Medizin vollzog sich ein folgenschwerer Bruch: Sterben und Tod wurden nun als etwas verstanden, das von natürlich-biologischen Parametern abhängt und in das grundsätzlich medizinisch eingegriffen werden kann. Damit war der Weg in die Medikalisierung des Sterbens beschritten.8 Sterben wurde pathologisiert und zu einem Thema der Medizin; es wurde zu einem Problem, gegen das mit medizinischen Mitteln – auch wenn diese anfänglich noch sehr beschränkt waren – angekämpft werden konnte.

      Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften gibt kritisch zu bedenken: »Die technisch unbegrenzt scheinenden Möglichkeiten haben einen Teil der in der Medizin Tätigen dazu verführt, gewagte Zukunftsszenarien zu entwerfen. Diese bewerten Krankheit und Tod nicht mehr als unbesiegbar, sondern stellen sie nur noch als ein technisch ungelöstes Problem dar. [...] Über Limitierungen im Sinne des vernünftigerweise Machbaren wird auf allen Seiten nur zögernd nachgedacht.«9

      Dank den Fortschritten der medizinischen Entwicklung in den letzten Jahrzehnten sind wir heute in einer Situation, in der der Medizin ein eindrückliches Arsenal an Interventionsmöglichkeiten zur Verfügung steht, um Patienten, die früher unweigerlich ihren lebensbedrohenden Krankheiten erlegen wären, erfolgreich zu behandeln. Das heißt nicht unbedingt, dass eine Heilung möglich ist; in vielen Fällen können Patientinnen aber durch entsprechende Maßnahmen mindestens am Leben erhalten, ihr Sterben verhindert und ihr Tod hinausgeschoben werden. Patienten am Lebensende befinden sich aus medizinischer Sicht selten in einer Situation, in der keine Behandlung mehr möglich ist.