Heinz Rüegger

Über selbstbestimmtes Sterben


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      Eindrücklich zeigt sich diese Entwicklung am Beispiel der Altersstruktur von Dialysepatienten. Die über 75-Jährigen bilden heute die größte Gruppe, die mit der Dialysebehandlung beginnt. Entsprechend hat sich der Anteil alter Menschen, die nur dank eines Nierenersatzverfahrens weiterleben, innerhalb von zehn Jahren verdoppelt. Ein anderes Beispiel ist der Ersatz von kranken Herzklappen. War zuvor die Sterblichkeit von über 80-Jährigen bei einem chirurgischen Klappenersatz sehr hoch, weshalb der Eingriff nur sehr zurückhaltend durchgeführt wurde, bietet sich nun der risikoarme Ersatz mittels Katheter-Technik an. Hohes Alter ist dabei kein Hinderungsgrund mehr. Die meisten Menschen sterben aktuell nach mehr oder weniger umfangreichen medizinischen Interventionen. In der westlichen Welt mit ihrem modernen Gesundheitswesen wird man es nur noch selten mit einem von technischer Intervention gänzlich unbeeinflussten Sterben zu tun haben.11 Der Schlussbericht zu den 33 Forschungsprojekten des Nationalen Forschungsprogramms »Lebensende«12 (NFP 67) hält fest, dass so etwas wie ein »natürliches Sterben«, d.h. ein von medizinisch-technischen Interventionen unbeeinflusster Krankheitsverlauf, der von sich aus zum Sterben führt, unter den heutigen Bedingungen unseres Gesundheitssystems kaum mehr eine mögliche Orientierungsgröße darstellt.13

      Das hat zur Konsequenz, dass Krankheitsverläufe am Lebensende in immer höherem Maße in vielfältige und oft komplexe Entscheidungssituationen führen. Denn »je mehr Behandlungsmöglichkeiten für Schwerkranke und Sterbende aufgrund des wissenschaftlichtechnischen Fortschritts […] zur Verfügung stehen, desto häufiger sind Entscheidungen zu treffen, die das Sterben beeinflussen. Heutzutage gehen den meisten Todesfällen, die für Ärztinnen und Ärzte nicht unerwartet eintreten – sogenannte ›nicht plötzliche und nicht-unerwartete Todesfälle‹ –, medizinische Entscheidungen voraus, die eine Verkürzung der verbleiben den Lebenszeit in Kauf nehmen oder sogar beabsichtigen«.14 Im Jahr 2013 wurden von den Ärzten, die einen Totenschein ausfüllten, 71% der Todesfälle in der Schweiz als erwartet bezeichnet und 82% davon (58,7% aller ausgewerteten Todesfälle) als Folge einer bewussten Entscheidung angesehen.15 Solche Entscheidungen sind also nichts Außergewöhnliches mehr. Aufgrund der vielen Möglichkeiten moderner Medizin, das Sterben gezielt hinauszuzögern, sind sie sogar meistens unausweichlich. Dabei ist zu bedenken, dass unter den Bedingungen eines modernen Gesundheitswesens auch der Verzicht auf jeglichen Eingriff eine medizinische Entscheidung darstellt.16 So oder so, die Medikalisierung des Sterbens hat dazu geführt, dass Sterben »zu einem Prozess unentwegten Entscheidens«17 geworden ist. Man muss sich klarmachen, was für ein kulturgeschichtlicher Paradigmenwechsel sich damit vollzogen hat: Während Jahrhunderten gab es nur eine Situation, in der das Sterben mit dem eigenen Entscheiden zum Sterben verbunden war: der Suizid (oder »Selbstmord«, wie man früher sagte). Und der galt als Sündenfall par excellence, den die Gesellschaft mit allen möglichen rechtlichen, sozialen und religiösen Verboten und Tabus zu verhindern suchte. Was so während Jahrhunderten streng vermieden werden musste, das Zusammenfallen von Sterben und Entscheid zum Sterben, das wird quasi »über Nacht« zum geforderten Normalfall:18 Selbstbestimmtes Entscheiden über das eigene Sterben wird vom Gesundheitssystem dem sterbenden Individuum abgefordert – allermeist zwar nicht im Hinblick auf einen potenziellen Suizid, wohl aber als Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen, als bewusste Entscheidung, das Sterben nicht mehr zu verhindern, sondern zuzulassen, obwohl man es in vielen Fällen durchaus noch durch medizinische Intervention hinausschieben könnte. Es geht letztlich da rum, dass nicht einfach gestorben wird, sondern »sterben gelassen« werden muss.19

      Sterben wird zur Aufgabe eines medizinischen Managements. Es ist gerade zentral für heutige Sterbeverläufe, dass wir mitbestimmen können, ja in vielen Fällen sogar müssen, wie wir sterben möchten.20 Darauf sind wir kulturell und mental nicht vorbereitet. Kein Wunder, fühlen sich viele angesichts dieses Paradigmenwechsels überfordert – so sehr ihn manche auch als Ausweitung persönlicher Freiheit und individueller Handlungsautonomie begrüßen mögen.

      Vom Kampf gegen den Tod zum Einsatz für ein friedliches Sterben

      Der Umgang mit Sterben und Tod gehörte jahrhundertelang nicht zu den Aufgaben der Medizin. Im »Corpus Hippocraticum«, einer maßgebenden Sammlung medizinischer Texte aus vorchristlicher Zeit, wird dem Arzt ausdrücklich geraten, sich von Sterbenden fernzuhalten. Die Betreuung und Begleitung von Sterbenden war Sache der Angehörigen oder von Geistlichen. Man kann geradezu von einer »historischen ›Nicht-Zuständigkeit‹ des Arztes für den Prozess des Sterbens und des Todes« sprechen.21 Gegen den Tod konnte medizinisch nichts getan werden, und auch der Sterbeprozess konnte nicht wesentlich gelindert werden. Deshalb galt das Augenmerk primär der richtigen inneren Einstellung des Sterbenden, mit der dieser seinem unausweichlichen Geschick entgegengehen sollte. Als Anleitung dazu entwickelte sich im Mittelalter die Literaturgattung »Ars moriendi« mit Anleitungen zur Kunst eines guten, gottergebenen Sterbens.22 Diese Situation änderte sich mit dem Aufkommen einer naturwissenschaftlich basierten Medizin. Das Sterben wurde nun als biologische Folge fortschreitender Krankheitsprozesse verstanden; durch rasante Fortschritte der pharmakologischen und medizinischen Wissenschaften wurden wirksame Möglichkeiten entwickelt, dagegen anzugehen. Der Internist Frank Nager hat darauf hingewiesen, dass »der Tod für die Mediziner des naturwissenschaftlich-technischen Zeitalters ein ›factum brutum‹ – eine nackte Tatsache – ist, dem sie den unerbittlichen Kampf angesagt haben. […] Im 20. Jahrhundert hat sich die moderne Heiltechnik zu einer gigantischen Veranstaltung gegen Sterben und Tod entwickelt.«23 Die heute noch da und dort vorherrschende »Todesverdrängung moderner Heiltechniker« hat den Tod zum Erzfeind der Medizin erklärt: »Von Berufs wegen ist er [der Tod] unser Feind, um nicht zu sagen – unser Todfeind.«24 Nun sind eine Medizin und ein Gesundheitssystem, die den Tod vor allem als zu bekämpfenden Feind wahrnehmen, letztlich unmenschlich und lebensfeindlich.25 Sie nehmen die Endlichkeit des menschlichen Lebens als elementaren Aspekt der »condition humaine« nicht ernst und können deshalb auch das Sterben von Menschen als wichtigen letzten Teil des Lebens nicht hilfreich begleiten. Peter Steiger, Intensivmediziner am Zürcher Universitäts-Spital, kommentiert eine heute weit verbreitete Tendenz insbesondere der Spitzenmedizin mit der lapidaren Feststellung: »Man will die Menschen heutzutage nicht mehr sterben lassen.«26 Kein Wunder, dass die Angst bei vielen Menschen groß ist, nicht sterben zu können beziehungsweise aufgrund medizinischen Intervenierens nicht sterben zu dürfen, obwohl das Leben eigentlich zu Ende geht.27

      Gegen eine solche einseitige medizinische Haltung hat sich in neuerer Zeit zunehmend Widerspruch erhoben. So hat etwa der Medizinethiker Daniel Callahan schon in den 1990er-Jahren eindringlich gefordert, die Medizin müsse die menschliche Sterblichkeit ganz neu ernst nehmen und dem Tod wieder seinen berechtigten Platz im Leben eines Menschen zugestehen. Er hält fest: »Die Tatsache seines unabwendbaren Sieges – seiner letzten Notwendigkeit – muss wieder in das eigene Selbstverständnis der Medizin aufgenommen werden, muss ein Teil ihrer Aufgabe werden, eine Begrenzung ihrer Kunst, die aber gleichzeitig die Natur dieser Kunst definiert.«28 Callahan ist überzeugt: »Eine Medizin, die sich eine Akzeptanz des Todes ganz zu eigen gemacht hätte, wäre eine große Veränderung im Vergleich zu ihrem gegenwärtigen Konzept; sie könnte dann den Raum schaffen, in dem die Sorge für die Sterbenden nicht ein nachträglicher Einfall wäre, wenn alles andere versagt hat, sondern dies für sich selbst als eines ihrer Ziele sehen. Diese Sorge um einen friedlichen Tod sollte genauso Ziel der Medizin sein wie die Förderung der Gesundheit.«29 Diese Überzeugung hat Eingang gefunden in den von Callahan geleiteten Prozess einer breit abgestützten internationalen Definition der Ziele der Medizin, die zu dem 1996 veröffentlichten »Hastings Report« führte: Die letzte von vier Zielbestimmungen besagt, zu den Aufgaben der Medizin gehöre »die Verhinderung eines vorzeitigen Todes und das Streben nach einem friedvollen Tod«.30 Hier tritt das Bemühen um die Ermöglichung eines friedlichen Sterbens gleichrangig neben den Kampf gegen einen vorzeitigen Tod als zentrale Aufgabe der Medizin in den Blick. Diese Perspektive ist in neuerer Zeit insbesondere in der Entwicklung einer Palliative Care und als Teil davon einer Palliativmedizin als eigener medizinischer Disziplin umgesetzt worden.31 Palliative Care verzichtet bewusst darauf, einen sich abzeichnenden Sterbeprozess durch kurative, auf Heilung zielende medizinische Maßnahmen aufzuhalten und den Tod zu bekämpfen; sie akzeptiert das Sterben und den Tod als fundamentale, zum Leben gehörende Phänomene. Palliative Care konzentriert sich darauf, durch umfassende lindernde Maßnahmen