als gut erlebt. Das Dilemma besteht in der Frage, länger zu leben mit der Demenzerkrankung oder früher zu sterben, bevor einem die Demenz alle Selbständigkeit raubt, dafür aber noch lebenswerte Zeit zu opfern.
Solche medizinischen Lebensende-Entscheidungen hat die EURELD-Studie (European End-of-Life Decision Making in Six European Countries) untersucht und dabei auch die Verhältnisse in der Schweiz 2001 und 2013 berücksichtigt. Dabei lassen sich verschiedene Formen unterscheiden:46
Lindern von Symptomen unter Inkaufnahme möglicher lebensverkürzender Wirkung (auch als indirektaktive Sterbehilfe bezeichnet);
Beendigung von oder Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen (auch als passive Sterbehilfe bezeichnet);
Tiefe Sedierung bis zum Tod, wobei das Ziel der Sedierung nicht die Herbeiführung des Todes ist, sondern die Ausschaltung des Bewusstseins mithilfe von Schmerz- und Beruhigungsmitteln, sodass der Patient nicht mehr an den ihn belastenden Symptomen leidet und in Ruhe an seiner Krankheit sterben kann;
Bewusster Verzicht auf Nahrung und Flüssigkeit mit der Absicht, dadurch den Sterbeprozess zu beschleunigen oder einzuleiten (auch als Sterbefasten bezeichnet);
Ärztlich assistiertes Sterben: Darunter fallen die in der Schweiz verbotene ärztliche Tötung auf ausdrückliches Verlangen der Patientin (auch als aktive Sterbehilfe bezeichnet) oder auch ohne ein solches Verlangen sowie der in der Schweiz erlaubte assistierte Suizid (auch als Beihilfe zum Suizid bezeichnet).
Neuere wissenschaftliche Untersuchungen zeigen, dass Menschen in vielen Fällen erst dann sterben (können), nachdem entsprechende medizinische Lebensende-Entscheidungen gefällt worden sind, also Entscheide, dass man sie sterben lässt, obwohl man sie noch weiter durch entsprechende Maßnahmen am Leben erhalten könnte.47
Die Lungenentzündung und andere Infektionen zählen zu den häufigsten Todesursachen. Durch eine Therapie mit Antibiotika kann in den meisten Fällen die Infektion bekämpft und damit das aktuelle Weiterleben ermöglicht werden. Die Entscheidung, ob das Antibiotikum eingesetzt wird oder nicht, ist somit in vielen Fällen ausschlaggebend für das Weiterleben oder das Zulassen des Sterbens. Der Entscheid gegen die Behandlung einer Infektion im Verlaufe einer fortschreitenden Krankheit ist deshalb eine der häufigsten Lebensende-Entscheidungen neben dem bewussten Verzicht auf intensivmedizinische Behandlungen.
Gemäß der jüngsten Studie, die sich auf Todesfälle im Jahr 2013 bezieht, ergibt sich, dass in 58,7% der Todesfälle in der Schweiz entsprechende Entscheide dem Sterben vorausgingen.48 Gian Domenico Borasio vermutet sogar, dass der Prozentsatz von Situationen, in denen sich Lebendsende-Entscheidungen stellen, in der Schweiz bei etwa 75% liegt. Er geht davon aus, dass in manchen durch die Studie untersuchten Fällen die anstehenden Fragen, ob lebensverlängernde Maßnahmen eingesetzt oder weitergeführt werden sollen oder nicht, gar nicht ernsthaft erörtert wurden, sondern einfach weitertherapiert wurde.49
Insgesamt lässt sich sagen, dass der Prozentsatz solcher Entscheidungen in der deutschen Schweiz höher liegt als in der französischen und italienischen Schweiz, aber generell höher als in anderen europäischen Ländern. Dies ist wohl als Zeichen für die hohe Bedeutung des Prinzips der Patientenautonomie insbesondere in der deutschen Schweiz zu werten, denn das Kriterium für solche Entscheide ist grundsätzlich der aktuelle, vorausverfügte oder mutmaßliche Patientenwille. Von den oben genannten verschiedenen Formen von Lebensende-Entscheidungen geht es in der deutschen Schweiz am häufigsten um einen Verzicht auf lebenserhaltende Maßnahmen, wobei in etwa der Hälfte der Fälle verschiedene Formen miteinander kombiniert wurden.50
Nach Dieter Birnbacher, Moralphilosoph, gilt auch für Deutschland, dass der Tod »vielfach das Ergebnis einer Entscheidung ist, in der Hauptsache der Entscheidung, die Bemühungen um eine weitere kurative, auf Heilung ausgerichtete Behandlung abzubrechen«. Birnbacher zufolge trifft dies auf mehr als 40% der Sterbefälle zu.51 Und Ralf J. Jox, geriatrischer Palliativmediziner und Medizinethiker, hält mit Blick auf die große europäische EURELD-Studie, die die Situation in Belgien, Dänemark, Italien, den Niederlanden, Schweden und der Deutschschweiz im Jahr 2001 miteinander verglich, fest: »Je nach Land war jeder vierte bis jeder zweite aller untersuchten Todesfälle mit der bewussten Entscheidung verbunden, das Sterben des Patienten zu ermöglichen. Meist geschah dies dadurch, dass eine oder mehrere lebenserhaltende Maßnahmen nicht mehr begonnen oder nicht mehr fortgeführt wurden.«52 Mit anderen Worten: In vielen Fällen haben wir es mittlerweile nicht mehr mit einem »natürlichen Sterben« zu tun, sondern mit einem »Sterben durch Handlungsbegrenzung zu potenziell lebensverlängernden Maßnahmen«.53
Selbstbestimmung beim Sterben als Zumutung für die Sterbenden
Mit dieser Entwicklung hat sich – von vielen Medizinalpersonen wie von Patienten gar nicht bewusst wahrgenommen – eine gegenüber früher qualitativ neue, he rausfordernde Situation ergeben. Das Nationale Forschungsprogramm NFP 67 »Lebensende« kommt zum Schluss: »Der Tod hat nicht länger den Charakter eines Schicksalsschlags, sondern wird immer mehr zu einer Folge individueller Entscheide: Wie, wann und wo will ich sterben? Diese Fragen zu stellen und zu entscheiden bringt zwar einen Freiheitsgewinn, aber auch eine Verantwortung mit sich, die in Überforderung münden kann.«54 Ging es früher darum, gegen ein Gesundheitswesen, das dazu tendierte, nach einer inneren medizinischen Logik am Lebensende immer weiter zu therapieren, das Recht auf den eigenen Tod und ein selbstbestimmtes Sterben einzufordern, hat sich das Blatt inzwischen gewendet: Die Medizin und die ethisch-rechtlichen Bedingungen unseres Gesundheitssystems verlangen von Patientinnen am Lebensende geradezu, sich selbst für das Sterben (oder für das Noch-nicht-sterben-Wollen) zu entscheiden. Sterben wird planbar; das ist ein Grundzug moderner Gesellschaften mit einer hoch entwickelten Medizin.55 Oder um es ganz pointiert zu sagen: Aus der Freiheit zur Selbstbestimmung wurde so etwas wie ein »Zwang zur Selbstbestimmung«.56 Denn »der moderne Mensch hat in den neuen Freiheiten nicht nur Möglichkeiten, er steht auch unter dem Zwang, wählen zu müssen. Er kann nicht nur wählen, er muss sein Leben und sein Sterben wählen, gestalten, als Projekt betrachten.«57 Oder mit den Worten des Schweizerischen Evangelischen Kirchenbundes: »Wir haben nicht die Wahl, ob wir entscheiden wollen oder nicht. Wir können lediglich zwischen vorhandenen Möglichkeiten wählen.«58
In neuerer Zeit hat vor allem die Medizinethikerin Nina Streeck darauf hingewiesen, dass diese Entwicklung die Gefahr in sich birgt, dass aus dem emanzipatorischen Einsatz für ein selbstbestimmtes Sterben, also für das Sterbe-Ideal des »eigenen Todes«, unter der Hand ein neues Gebot, ein gesellschaftlicher Imperativ wird, nur ja ein autonomes Sterben zu verwirklichen, weil nur so auch noch im Sterben die menschliche Würde gewahrt werden kann.59
Die 57-jährige Journalistin leidet an einem Krebs der Bauchspeicheldrüse. Seit dreißig Jahren ist sie Mitglied von EXIT und hat stets erklärt, dass sie einmal ihren Todeszeitpunkt selber bestimmen wird. Für sie besteht darin eine Voraussetzung für ein Sterben in Würde. Nun liegt sie schwerkrank auf der Palliativstation, und ihr Tod ist absehbar. Sie wehrt sich gegen das natürliche Sterben und will ihm durch einen assistierten Suizid zuvorkommen. Das Geschehenlassen des natürlichen Endes widerspricht ihrer Vorstellung des selbstbestimmten Todes. Erst nach vielen Gesprächen kann sie auch das Zulassen des natürlichen Todes als autonome Entscheidung akzeptieren – und stirbt wenige Stunden danach.
Diese Herausforderung eines selbstbestimmten Sterbens als Konsequenz der durch die abendländische Aufklärung bedingten Betonung von Individualismus und Autonomie einerseits und der enormen Fortschritte moderner Medizin andererseits ist insbesondere ein Phänomen moderner westlicher Kultur. Patienten aus anderen Kulturkreisen, in denen medizinische Entscheide entweder vom Arzt, von der Familie oder von einem Geistlichen gefällt werden, tun sich damit zuweilen schwer. Die damit aufgeworfenen Fragen stellen sich aber unweigerlich und in zunehmendem Maße auch in anderen Kulturen, wo immer hoch entwickelte westliche Medizin Eingang hält. Umgekehrt fordern uns Patienten oder Heimbewohnerinnen fremder Kulturen, die in Institutionen unseres westlichen Sozial und Gesundheitswesens betreut werden, dazu heraus, medizinische Entscheidungsprozesse so zu gestalten, dass auch kollektive oder stellvertretende Formen der Meinungsbildung zum Tragen kommen können, ohne das