nachvollziehen und entsprechende Erfahrungen weitergeben zu können. Denn nicht nur die Kritiker, auch wir als anwendende Therapeuten schauen vor allem auf die „Therapieversager“, die uns die Nachtruhe kosten. Erst mit geeigneten Denkmodellen lernen wir verstehen, was möglicherweise falsch gelaufen ist, und wir erkennen, worauf es wirklich ankommt. Dabei sind diejenigen Erklärungsmodelle am tauglichsten, aus denen sich innerhalb einer Grundhypothese alle auftauchenden Phänomene der Methode herleiten lassen.
Der nächste Schritt muss demnach nicht nur zu der Überlegung führen, wie es funktioniert (im Sinne einer Gebrauchsanweisung), sondern warum es funktioniert, das heißt, welche Steuerungsprinzipien dahinterliegen. Wir müssen verstehen, wenn wir sinnvoll handeln wollen – das wird in diesem Buch noch öfter Thema sein.
Solange Erfahrungen nur beschreibend und ohne Verständnis tieferer Bezüge weitergegeben werden, wird sich bei der Verbreitung einer Methode der „Stille-Post-Effekt“ einschleichen: Am Ende kommt nur unverständliches Kauderwelsch heraus. Oder es werden Hypothesen konstruiert, die letztlich gar nichts mehr mit der Sache zu tun haben. Das kann sich die Kinesiologie, wenn sie als ernst zu nehmende Methode Fuß fassen will, meiner Ansicht nach nicht leisten. Und sie hat es auch nicht nötig.
Eine der Schwachstellen der Kinesiologie, die die Kritiker zum Nachbohren veranlasst, sehe ich genau darin, dass sie sehr viele positive Erfahrungswerte aufweist, aber kein einheitliches Denkmodell. Was natürlich bei einer derart komplexen Methode kein Wunder ist, denn jeder Anwender wird zunächst seinen Teilbereich vertreten und zu erklären versuchen. Folglich „zersplittern“ Theorien im Großen und im Kleinen die Methode, gerade in den Randbereichen der Weiterentwicklung; die Bandbreite ihrer Erklärungen erstreckt sich von neurophysiologischen Messungen und Erkenntnissen der Gehirnforschung über mystische Deutungen bis hin zu esoterischen Konstrukten, die von seriösen Vertretern der Kinesiologie mit „Bauchschmerzen“ registriert werden.
Die Krux der Kinesiologie ist, dass sie einerseits noch so jung, andererseits enorm potent ist. Wir als Anwender und Lehrende sitzen in der Klemme, da wir dieses Potenzial zu einer Zeit entdeckt haben und weitervermitteln, in der die „Beweisführung“ noch zu wünschen übrig lässt. Eine entscheidende Frage ist deshalb, wie wir trotzdem zur Anerkennung beitragen können.
Hier ist und bleibt mein Schlüsselwort Glaubwürdigkeit. Diese Glaubwürdigkeit basiert allerdings nicht ausschließlich auf wissenschaftlichen Beweisen.
Glaubwürdigkeit
In unserer Gesellschaft ruht Glaubwürdigkeit, sofern nicht die klassischen wissenschaftlichen Kriterien erfüllbar sind, vor allem auf drei Säulen:
● auf empirischen Belegen
● auf stimmigen Erklärungsmodellen
● auf der Repräsentation der Methode in der Öffentlichkeit
Die beiden ersten Punkte haben wir auf den vorigen Seiten betrachtet, der letzte kommt nun neu hinzu. Alle drei Punkte werden uns in diesem Buch immer wieder beschäftigen, wobei das Hauptgewicht auf der mittleren Säule liegt, dem Versuch eines Erklärungsmodells.
Wenn eine der Säulen fehlt oder nicht stabil ist, kommt die Glaubwürdigkeit leicht ins Kippen. So können wir vielleicht Hunderte von Fällen empirisch belegen, in denen der Muskeltest sozusagen „Wunder“ bewirkt hat; solange wir aber keine Logik im System vermitteln können, werden Skeptiker die Erfolge dem Zufall oder Suggestionseffekten zuschreiben.
Eine rein theoretische Erklärung und Herleitung wiederum müsste sich zunächst auch in der praktischen Anwendung bewähren, sonst wäre sie untauglich – und damit letztlich auch nicht logisch.
Diese beiden zuerst genannten Punkte betreffen die Methode als solche; in Bezug auf beide steckt die Kinesiologie eher noch in den Kinderschuhen; das heißt, diese beiden Säulen haben noch keine volle Tragfähigkeit.
Deshalb muss vielleicht gerade in dieser sensiblen Anfangszeit die dritte Säule das Gewicht mittragen: Das sind die Repräsentanten, die die Methode in der Öffentlichkeit vertreten. Ihnen werden wir uns, wie natürlich auch den beiden anderen tragenden Säulen, in den folgenden Kapiteln zuwenden. Um aber Wert und Wichtigkeit dieser drei Säulen der Glaubwürdigkeit zu ermessen, lassen Sie uns zunächst betrachten, was Kritiker an der Kinesiologie zu bemängeln haben.
Gelobt seien die Kritiker!
Es lohnt sich, Skepsis, Misstrauen und Angriffe, die das Image der Kinesiologie untergraben möchten, näher zu untersuchen. Denn wenn wir einmal von denjenigen absehen, die etwas Neues prinzipiell und ohne näheres Hinsehen blockieren und demontieren wollen, bleiben etliche Skeptiker übrig, die zumindest ein Fünkchen Wahres aussprechen. Diese Kritiker und Skeptiker zeigen uns, wo unser Denken weiterentwickelt werden muss.
Zwei große Trümpfe hält die „Gegenseite“ in der Hand:
1. Skepsis hinsichtlich der Inhalte der Kinesiologie
2. Kritik am Umgang mit der Kinesiologie und ihrer Präsentation
Trumpf 1: „Die Kinesiologie und die Art ihrer Untersuchungen sind unwissenschaftlich.“
Das stimmt zumindest teilweise, vor allem aus der Sicht der seit Jahrhunderten etablierten Wissenschaft, die nur langsam neuere Erkenntnisse und Ansätze aufgreift. Da hat es noch wenig bewirkt, dass große Physiker bereits seit bald hundert Jahren unser materialistisches Weltbild infrage stellen. Obwohl Begriffe wie Quantentheorie oder Schlagworte wie Materielosigkeit der Materie schon in vieler Munde sind und die meisten Menschen in ihrem Leben „Parawissenschaftliches“ wie Telepathie, Synchronizitäten oder sinnhafte Zufälle erlebt haben, ist unser Denken davon keineswegs durchdrungen. Weiterhin wird wissenschaftlich nur anerkannt, was wir messen können, was sich kontrolliert erzeugen lässt oder was den „Doppelblindstudien“ standhält.
Solange diese Auffassung von Wissenschaft der Filter ist, durch den neue Informationen „gesiebt“ werden, hat die Kinesiologie wenig Chancen. Wenn es auch schon neurophysiologische Dokumentationen zum Muskeltest und zur Kinesiologie gibt, bleiben mehr Phänomene offen, als mit den heute gültigen Kriterien geklärt werden können.
(Para-) Wissenschaftliche Solidarität
Tröstlich ist, dass es nicht nur der Kinesiologie und anderen alternativen Heilverfahren alleine so ergeht. Bis in die etablierte Wissenschaft (vor allem in die Physik) hinein müssen Anwender und Forscher zugestehen, dass es Phänomene gibt, die sich eindeutig nicht der Erfassbarkeit im Sinne des gängigen wissenschaftlichen Anspruchs unterwerfen lassen. Obwohl sie noch keine „Beweise“ anzubieten haben, schweigen sie jedoch zumindest deren Existenz nicht tot.
Doch auch (und gerade) diese wissenschaftlichen Neuerer und Vordenker legen Wert auf Seriosität und suchen nach Glaubwürdigkeitskriterien. Denn ohne Nachvollziehbarkeit, ohne den Versuch, Gesetzmäßigkeiten zu erfassen, verliert die Glaubwürdigkeit jeglichen Boden und macht Platz für Beliebigkeit und Willkür, mit der man dann alles und jedes „erklären“ und rechtfertigen kann.
Wir brauchen also ein anderes Verständnis von Prüfkriterien; hierzu biete ich ein Zitat des Physikers und Philosophen Hans-Peter Dürr an, aus seinem Buch Auch die Wissenschaft spricht nur in Gleichnissen (Freiburg 2004):
„Die mehr ganzheitliche Betrachtungsweise …
… muss sich allerdings mit der prinzipiellen Schwierigkeit auseinandersetzen, dass bei ihr Aussagen kaum oder, genauer gesagt, gar nicht mehr in einem Sinne nachkontrolliert werden können, wie dies für eine moderne Wissenschaft im Idealfall als notwendig erachtet wird. Diese Schwierigkeit kann streng genommen nicht beseitigt werden, weil sie in der ganzheitlichen Struktur der Wirklichkeit begründet ist. So lassen sich insbesondere kaum experimentelle Situationen herstellen, welche als genügend ‚gleichartigh‘ gelten können, um für eine Nachprüfung im üblichen Blind-blind-Sinne geeignet zu sein (Experimente, bei denen jegliche Einflussnahme vom Beobachter oder vom Beobachteten