Frank J. Kinslow

Suche nichts - finde alles!


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      1. Wer bin ich?

      „Ich pin wassich pin.“

       Popeye, der Seemann

      Ich habe mich nie ganz auf das Erwachsensein eingelassen. Ich erinnere mich, wie selig ich mit einem Stock auf der Erde malte oder den schneeweißen Wolken zuschaute, die bedächtig am tiefblauen Himmel entlangzogen; oder wie ich staunend verfolgte, wie ein Trautropfen mit jedem einfühlsamen Windstoß darum rang, sich aus einem Spinnennetz zu befreien. Kinder schauen wie Heilige.

      Kindheit und Erwachsenenalter sollten nicht miteinander auf Kriegsfuß stehen, das habe ich schon immer so empfunden. Das war mein Gefühl als Kind, als ich mich auf das Erwachsensein vorbereitete. Die meisten von uns kapitulieren bekanntlich. Und dann vergessen wir. Wir lassen uns von dem Zuwachs an Macht verführen, der mit dem Erwachsenwerden verbunden ist.

      Ich bin aus dem Spiel ausgestiegen

      Meine Kindheit verbrachte ich nach dem Zweiten Weltkrieg in Japan. Mit zehn Jahren erkannte ich erstmals den Widerstreit zwischen der Unbefangenheit des Seins und der Berechenbarkeit des Kontrollierens. Die Situation war folgende:

      Ich hatte mit der Sportart Judo angefangen. Jeden Abend brach ich gleich nach dem Abendessen zum Dojo auf; meinen zusammengerollten Judoanzug trug ich am braunen Gürtel über der Schulter. Ich ging an kleinen, schwach beleuchteten Häusern vorbei, die in den schmalen, gewundenen Straßen von Yokohama eng an eng standen, wie Nachbarn, die über den hinteren Gartenzaun den letzten Klatsch aufschnappten, bevor die Dunkelheit Stille gemahnte. Aus Hibachi-Öfen, in denen Holz verbrannt wurde, durchzogen dünne, graue Rauchschwaden wie Geisterschlangen die ruhige Luft. Erst regten sie sich nicht, dann atmeten sie in der Dunkelheit und verschwanden langsam durch die Holzschindeldächer. Bald darauf pflegte der Soba-Mann zu kommen. Wie ein im ruhigen Wasser ausgeworfenes Fischernetz drang der gefühlvolle Ruf des Nudelverkäufers („Sooobaaaa“) in die Häuser und zog dadurch die Gedanken der Bewohner auf sich wie das Fischernetz silberne Fische.

      Ich bog dann von der Straße ab in einen der zahlreichen verschlungenen Fußwege, die die Häuser voneinander trennten. Nur noch wenige Schritte und ich stieß auf einen Hof mit Gärtchen und auf das Haus, in dem ich bei meinem Meister Judo lernte.

      Der Meister war damals weltweit einer von nur vier Trägern des Schwarzgurtes 10. Dan, der höchsten Auszeichnung in dieser Sportart. Ich spürte es zwar, erfuhr aber erst später, dass er auch von Frieden beseelt war. Er redete nicht viel, doch wenn er etwas sagte, drang sein Friede tiefer ein als seine Gedanken.

      Mein Friede hingegen war im Schwinden begriffen. Ich bereitete mich ja auf das Erwachsensein vor. Als Amerikaner war ich körperlich größer als die meisten meiner japanischen Trainingspartner. Statt durch Technik bezwang ich meine Gegner lieber mit Gewalt. Eines Abends stellte der Meister mich buchstäblich groß heraus, als den Stärksten in diesem Kurs, er jubelte mich geradezu hoch. An diesem Tag sollte ich gegen einen Jungen antreten, der mir gerade mal bis zum Nabel ging. Erfüllt vom jüngsten Lob des Meisters, war ich mir des Ausgangs gewiss. Ich erinnere mich noch heute an meine Vision, wie ich diesen Kampf gewinnen würde: Ich plante, eine komplizierte und recht exotische Bewegung auszuführen und diese halbe Portion durch das Fenster aus Papier in den Hof zu befördern. Doch zu meinem Glück kam es ganz anders, als ich geplant hatte. Das ist eine schmerzliche Geschichte, deshalb fasse ich mich kurz:

      Mein wendiger kleiner Gegner weigerte sich immer wieder, den Kurs vorzeitig durch das Seitenfenster zu verlassen – ja, er machte ein „Gegenangebot“, das ich nicht „abschlagen“ konnte. Ich erinnere mich, an diesem Abend einige Male die Decke angeschaut zu haben. Das hatte ich ursprünglich zwar keineswegs im Sinn, doch irgendwie gewöhnte ich mich an die Vorstellung. Ich glaube, die Vertreter der Verhaltenstherapie nennen so etwas „Neukonditionierung“. Mein Rücken und die Matte, die sich bisher recht fremd waren, wurden gute Freunde. Obwohl der Kampf wahrscheinlich nur zehn Minuten dauerte, kamen mir diese wie zehn Stunden vor. Alle Anwesenden im Dojo verkniffen sich taktvoll ein Lächeln, während der Tsunami-Teufel – wie ich ihn nannte – und ich uns verbeugten und so den Kampf beendeten. Um Salz in meine frischen Wunden zu streuen, teilte mir einer der anderen Schüler mit, der Junge sei erst sechs Jahre alt. Ich habe ihn nie vorher und nie mehr nachher im Dojo gesehen. Meiner Meinung nach war er ein unter Vortäuschung geringen Könnens eingeschleuster Judoka, sozusagen inkognito in einen Wettkampf eingeschmuggelt. Ich bin sicher, seine einzige Aufgabe bestand darin, die Runde durch verschiedene Dojos zu machen und aufgeblähte Egos im Judoanzug zurechtzustutzen.

      Am nächsten Abend – ich hatte schon erwogen, gar nicht ins Dojo zu gehen – zeigte uns der Meister das Belly Water System. Das ist eine „Geist-ist-stärker-als-Materie“-Technik, die die Körperkraft erhöht, indem sie den Geist beruhigt. Als ich die Technik praktizierte, flossen Wut und Demütigung, die ich seit dem Abend zuvor in mir getragen hatte, aus mir heraus wie Wasser aus einem zerbrochenen Gefäß. Ich war leer. An ihre Stelle trat eine ruhige Präsenz oder Gegenwärtigkeit, die mein Tun nur zu beobachten schien. Ich hatte mich wieder mit meinem Selbst vereinigt. In dieser Gegenwärtigkeit war ich sicher, vollkommen. Ich empfand eine Art unerschütterlichen Friedens, der nirgendwo anders herkommt. Wegen des Kontrastes erinnere ich mich so deutlich daran. Erst war ich wütend und frustriert und dann war ich von einer ruhigen, inneren Stärke umgeben – innerhalb weniger Sekunden. Rückblickend bin ich sicher: Der Meister hatte das alles geplant.

      Dieser Friede hob sich noch aus einem anderen Grund in meinem Geist deutlich ab. Bis dahin hatte ich ihn noch nicht oft erlebt. Das Wunder des Lebens begann in meinen Augen zu verblassen. Ich war schon dabei, dem Versprechen nachzugeben, wonach Macht durch schiere Kraft und Gewalt zu erreichen sei. Meine Eltern, meine Lehrer, ja sogar meine gleichaltrigen Kameraden brachten mir bei: Wenn ich erreichen will, was ich mir wünsche oder was sie sich für mich wünschen, dann muss ich sehr selbstdiszipliniert sein, viel Willenskraft aufbringen und hart arbeiten. Das Haar in der Suppe war, dass ich gerade erst die friedliche Kraft der Kindheit wiederentdeckt hatte und dass sie mir gefiel. Einerseits zwickte mich eine spielerische Gegenwärtigkeit in die Fersen. Andererseits wurde mir immer wieder versichert, ich würde mehr Erfolg haben, als ich mir in meinen kühnsten Träumen ausmalen könne, wenn ich nur lernte, mich selbst und mein Umfeld zu steuern und zu kontrollieren.

      Ein halbes Jahrhundert ist vergangen, seit ich damals in diesem Dojo in Yokohama den Frieden wiederentdeckte. Ich habe gelernt, meine Umgebung zu kontrollieren, doch nicht so, wie mich meine Lehrer ermuntert hatten. Jetzt lasse ich das mein Selbst für mich machen. Ich bin aus dem Spiel ausgestiegen.

      Erwachen

      Friede ist, wie ich entdeckt habe, eine Begleiterscheinung. Er resultiert weder aus einer Erkenntnis noch aus einer Anstrengung. Meist kommt er insgesamt zu selten und immer unvorhergesehen, also wenn man nicht nach ihm sucht – das heißt: wenn man nicht weiß, wie man danach suchen soll. Das Geheimnis, wie man inneren Frieden findet, werden wir in diesem Buch lüften. Der Suche nach diesem Frieden habe ich mein Erwachsenenleben gewidmet. Ich verbrachte viele Jahre in stiller Meditation; ich zog mich buchstäblich auf Berggipfel in exotischen fernen Ländern zurück. Mehrere Stunden eines „normalen“ Tages brachte ich damit zu, zu meditieren und den Frieden zu finden und aufrechtzuerhalten. Nach 35 Jahren hingebungsvoller „spiritueller“ Arbeit war ich dem anhaltenden inneren Frieden keinen Schritt näher als zu Beginn meines Weges. Mutlos und frustriert gab ich die Sache auf. Ich gab alles auf, was mein Leben ausgemacht hatte, und fand an seiner Stelle nur Öde. Auch dort war kein Friede zu finden. Einen letzten winzigen Hoffnungsschimmer hatte ich noch.

      Als ich eines Tages in Flint (Michigan) im Café einer Buchhandlung saß und in einen Styroporbecher mit Grüntee starrte, erlosch auch dieser. Danach bewegte sich nichts. Das Universum hatte aufgehört, zu atmen. In dieser Stille war, kaum wahrnehmbar, ein winziger Punkt des Friedens. Als dieser mein Gewahrsein auf sich zog, fühlte ich mich wie Alice, die in den Kaninchenbau fiel. Im Fallen wurde ich kleiner, wie ein Kieselstein, den man von einer hohen Brücke wirft. Unmittelbar vor meinem Ende gab es eine Explosion, die sich anfühlte wie der Urknall, außer dass statt Feuer und Steinen Friede da war. Die Wucht der Explosion